Skandalfreie Hauptstadt:Verlebt in Berlin

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Berlin verkommt immer mehr zur skandalfreien Zone - gerade für Politiker. In der Hauptstadt sind nicht einmal die Äffären von Politikern mehr das, was sie mal waren.

Cathrin Kahlweit

Gott, was waren alle 1991 noch zuversichtlich, als sich der Bundestag dafür entschied, aus dem Raumschiff Bonn ins ostisch-graue, nach Wedding und Kohl riechende Berlin umzuzuziehen. Der Verleger Klaus Wagenbach schrieb damals euphorisch: "Jetzt kommen endlich ein paar tausend lustige Rheinländer, ein paar tausend antipreußische Bayern, ein paar tausend sparsame Schwaben in unsere Stadt. Und die Zuzügler werden mit Leuten konfrontiert, die sie von zu Hause nicht kennen: Autonome, Polen, Opernsänger, Türken, Linksintellektuelle, Russen, Off-Künstler, Sachsen."

Berlin verkommt immer mehr zur skandalfreien Zone. (Foto: Foto: rtr)

Wenn man mal von dem konfrontativen Schrecknis absieht, dass ein Rheinländer in Berlin heutzutage quasi unentwegt einem Sachsen begegnet, hat Wagenbach jedoch nur sehr begrenzt recht behalten - zumindest, was die innere Öffnung der Abgeordneten für das neue Leben und die neuen Möglichkeiten im Moloch Berlin angeht. Das findet zum Beispiel der Bild am Sonntag-Kolumnist Martin S. Lambeck, der schon in Bonn immer geguckt hat, was seine Parlamentarierer so treiben, wenn sie mal aus dem Langen Eugen oder dem Wasserwerk herausfielen und sich in ihrer Freizeit mitten im Volk oder auch mal bei der falschen Frau verlustierten.

Die Angst der Abgeordneten

Wer sich in der boomenden, swingenden, explodierenden Hauptstadt umhört, was denn Abgeordnete so nach, sagen wir mal, 19 Uhr treiben, wenn die lustigen rheinländischen oder sparsamen schwäbischen Ministerialbeamten in ihr neues Eigenheim am Stadtrand fahren - und wer nachfragt, ob dann die Begegnung mit der Stadt oder auch nur die Begegnung mit der netten Mitarbeiterin aus dem Büro gegenüber stattfindet, der wird in der Regel bitter enttäuscht. "Es gibt kaum noch Abgeordnete, mit denen man um die Häuser ziehen kann", klagt der gutgelaunte und überaus ubiquitäre Weinkenner Lambeck. "Die Leute fühlen sich vom Riesen Berlin bedroht."

Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, warum derzeit ein recht erfolgreiches Buch als Basis für Klatsch - und für die virtuelle Begegnung mit dem Leben - herhalten muss. Der Leiter des Berliner Spiegel-Büros, Dirk Kurbjuweit, hat einen Roman geschrieben, der passend zum Politikbetrieb "Nicht die ganze Wahrheit" heißt, und in dem er die Liebesgeschichte zwischen einem SPD-Vorsitzenden namens Leo Schilf und einer jungen SPD-Abgeordneten, Anna Tauert, erzählt - vor dem Hintergrund des Ringens um die Agenda 2010 und der Aufregung um die rot-grüne Doppel-Regentschaft.

Der Kanzler ist gut zu erkennen mit seiner testosteron-geschwängerten Männlichkeit, und auch der Vizekanzler von damals ist leicht auszumachen. Aber natürlich legt Kurbjuweit Wert darauf, dass die Hauptpersonen "deutlich nicht lebende Personen sind", und dass dies "kein Schlüsselroman" über die letzte Regierung ist. Sondern eine Geschichte über die Liebe, in der alles passieren kann, wobei man ja bisweilen durchaus hofft, dass nicht alles passiert, was das eigene, kleine, geordnete Leben durch große Gefühle durcheinanderbringt.

Die beiden, also Schilf und Tauert, sind, wie jeder halbwegs gesichtsbekannte Politiker im Berliner Betrieb, unter permanenter Beobachtung. Schilf sowieso, aber auch Anna, die, weniger phänotypisch als inhaltlich, an die junge Andrea Nahles aus jener Zeit erinnert, in der sich die heutige Partei-Vize noch mit linken Positionen gegen die Parteiführung stemmte. Also treffen sich die beiden zum Knutschen im Jakob-Kaiser-Haus immer für ein paar gestohlene Minuten in einem Aufzug. Grauer Granitfußboden, gebürstetes Aluminium, es gibt ihn tatsächlich, und er befindet sich vor dem Büro des Fraktionsvorsitzenden. Weshalb Peter Struck neulich Kurbjuweit erzählte, in der Kantine hätten ein paar Kollegen diskutiert, ob dies der Aufzug sei, in dem Anna und Leo immer. . .

Wirkliche Skandale gäbe es in Berlin nur bei der Love Parade - aber die wurde ja abgesagt. (Foto: Foto: dpa)

Er ist es, aber ansonsten sei das Ganze ein Roman, betont dessen Autor, und erklärt, warum diese zarte und doch komplizierte Affäre (aber welche wäre das nicht) im Politikbetrieb spielt. "Eine Affäre heißt: sich verbergen, Fassade, Heimlichkeiten. Politik heißt: Fassade, Heimlichkeiten. Die Situation ist ähnlich."

Aber heimlich ist eben heimlich, also geheim. Daher wird in Berlin viel geredet - in Ermangelung toller Skandale. Man erinnert sich wehmütig an jene tolle Zeit in Bonn, als ein legendärer Vorsitzender auf Parteitagen laut gähnend seinen Zimmerschlüssel zückte und sagte: "Meine Zimmernummer ist. . . gähn. . .. sieben. . . gähn. . . null-sieben". Worauf er aufstand, und ins Bett ging - und die eine oder andere Dame, die das Zeichen richtig gedeutet hatte, auch.

"Stadt der Stenze"

Heute wird viel gegähnt und wenig gegangen, wenn man nach der Gerüchteküche geht. Denn weder ein Berliner Spindoctor noch die Pressesprecherin eines Ministeriums noch einige investigativ ausgequetschte Abgeordnete noch eine Society-Reporterin noch langjährige Hauptstadt-Journalisten haben auf die Frage, ob der deutsche Abgeordnete sich nachts ins Lotterleben oder ins Lotterbett der Nachbarin stürzt, eine wirklich erschütternde Antwort. Oder zumindest eine, die der Wahrnehmung draußen in der weiten Welt entspricht: Dass nämlich Politik und Macht und Erotik und Laisser-faire quasi Hand in Hand gehen.

Wo doch der Seehofer zwei Frauen hatte und der Tiefensee auf dem Bundespresseball für Bunte und Bams und Wams seine neue Freundin vorzeigte. Wo doch der Wulff und der Oettinger sich neu orientieren, und der Wowi und der Ole und der Guido nicht neu, aber anders. Und wo doch Hajo Schumacher in der Februar-Ausgabe des Cicero über die "Stadt der Stenze" schreibt, in der sich virile Politiker mit eindeutiger Absicht reihenweise ins Nachtleben stürzen, wobei sie mit ihrer Triebsteuerung auch gleich beim Wähler das Gefühl erweckten, wer sexuell rege sei, bei dem müsse auch "anderes funktionieren".

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Was Bundeskanzlerin Merkel zu einer neuen Freundin sagte...

Klar: Es gibt Menschen, die gut informiert sind, sein müssen. "Mutti" zum Beispiel, wie die Kanzlerin in Berlin-Mitte oft genannt wird, soll die menschlichen Irrungen in ihrer Umgebung mit Humor nehmen. Kürzlich habe ein Mitarbeiter ihr seine neue Freundin vorgestellt, erzählt ein Beobachter. "Muss ich mir ihren Namen merken?", soll sie keck gefragt haben.

Und klar: Es gibt immer welche, über die tout le monde spricht. Aber es sind auch fast immer dieselben. Und die echten Aufreger sind nicht mehr im Geschäft. Scharping fährt Rad. Schröder trinkt Wodka auf Gazprom-Kosten. Fischer ist 60 geworden und liebt nach allem, was man hört, seine Frau.

Laurenz Meyer hat eine neue Freundin, aber die ist ja, sozusagen, auch schon wieder alt, Friedbert Pflüger, der Berlin eine Weile in Atem gehalten hat, ist inzwischen verheiratet, Minister Tiefensee hat seine neue Freundin auch schon in die Gesellschaft eingeführt, Seehofer hat sich entschieden. "Viel Aufmerksamkeit für wenig Sex" gebe es in Berlin, sagt ein Beobachter. "Es ist prosaisch: Die Leute arbeiten." Ausschüsse, Unterausschüsse, Sitzungen, Dienstreisen, Talkshows, Journalistentreffen im kleinen Kreis, parlamentarische Gruppierungen, Partei-Gruppierungen, Redenschreiben, Aktenlesen, Treffen mit Lobbyisten, Treffen mit Besuchern aus dem Wahlkreis. Schwer verdientes Geld, so eine Abgeordnetendiät - wenn einer seinen Job ernst nimmt.

Zu viel zu tun, zu viele Augen, zu bequem, sich nach getaner Arbeit mit den immer gleichen Leuten in Berlin-Mitte um ein paar Stehtische bei einem von der Industrie bezahlten Drink zu drängen oder in der Parlamentarischen Gesellschaft bei einem guten Essen zu treffen. Um dann allein nach Hause in die sogenannte Schlange zu gehen, wo viele Abgeordnete wohnen: vorne raus Blick auf die Spree, hinten grauweiße Wände, enge Flure, Spione in den Türen und die Gefahr, sich in den ewig gleich aussehenden Aufgängen und Treppenhäusern und inmitten der Wohnblock-Tristesse in der eigenen Adresse zu irren.

Die Familie ist anderswo

Unter sich bleiben könnte ja aber auch lustig sein, wo doch alle im selben Boot sitzen auf ihrer legislaturlangen Dienstreise vom Wahlkreis nach Berlin und zurück und hin und zurück. Wo sich so eine Art Butterfahrt-Atmosphäre einstellen könnte, mitnehmen, was geht, der Familienalltag ist anderswo: in den Sitzungswochen weg von zu Hause, von kritischen Ehefrauen und kranken Kindern, Abende ohne den Druck, heimzugehen und zu erzählen, wie der Tag war, stattdessen Einladungen im kleinen Kreis, Soirées nach der Berlinale, Sommerpartys bei ZDF und FAZ, Neujahrs-Stehpartys in den Landesvertretungen, Wodka beim russischen Botschafter, Champagner bei der Telekom oder dem BDI.

Ist auch nett, aber wenig abenteuerlustig und sehr auf Berlin-Mitte orientiert. Lambeck jedenfalls, der überall dabei ist, wo sich in der Politik der "human factor" zeigt, findet das politische Berlin eher "solide". Auch wenn man sich an der Bar des Ritz-Carlton, im "Bocca di Bacco", im "Entrecôte" oder im "Einstein" gern von dem Macho-Politiker erzählt, der seine Sicherheitsleute vorschickt, um junge Frauen zu informieren, sie würden erwartet. Oder von der damenhaften Kollegin, die als eher spröde gilt, aber ein Verhältnis mit einem juvenil gestylten Hallodri gehabt haben soll. Oder von dem dicklichen Kollegen mit Haarschuppen auf dem Rolli, der es immer wieder versucht, immer scheitert, aber dafür sensationell gute Viagra-Witze kennt. Ist ja auch schon mal was.

© SZ vom 19.4.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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