Sicherheit:Im Rausch

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Die Spaßparkindustrie lebt von der Gier nach Nervenkitzel und der menschlichen Suche nach dem Kick - trotz tragischer Unfälle, trotz allgemeinem Sicherheitsbewusstsein. Die Geschichte eines Zwiespalts.

Von Martin Zips

Ein Kind stirbt in einem US-amerikanischen Freizeitpark. Auf der einen Seite also: grenzenloses Vergnügen in einem wohlhabenden, friedlichen Land. Auf der anderen Seite: der Tod. Größer kann der Gegensatz gar nicht sein.

Der Junge, 10, kam in Kansas City ums Leben. Auf einer Wasserrutsche, die den deutschen Namen "Verrückt" trägt. Er verletzte sich während der Fahrt an Kopf und Nacken. "Verrückt", das ist die höchste Wasserrutsche der Welt, wer sich dort in eines der dreisitzigen Schlauchboote setzt, der rutscht gleich am Anfang 50 Meter tief, das gibt Schwung für die weitere Fahrt. Seit zwei Jahren ist die Sommerrutsche im "Schlitterbahn"-Wasserpark in Betrieb. Auf alten Videos ist zu sehen, wie vor der Eröffnung Test-Schlauchboote mit Dummies aus der Rutsche fliegen. Damals musste nachgebessert werden. Mit Auffangnetzen zum Beispiel. Nun bleibt die Rutsche bis auf Weiteres geschlossen. Die anderen Attraktionen im "Schlitterbahn"-Wasserpark sind wieder geöffnet.

Betrieben wird der Park vom US-amerikanischen "Schlitterbahn"-Unternehmen, welches derzeit vier Wasserparks in Texas und Kansas am Laufen hält. Viele Fahrgeschäfte haben deutsch angehauchte Namen: "Wolfpack" zum Beispiel, "Kinderhaven" oder "Blitz Falls". Dass hat damit zu tun, dass das 1900-Mitarbeiter-Unternehmen seinen Sitz in New Braunfels hat, eine im Jahr 1845 von deutschen Einwanderern im Auftrag des "Mainzer Adelsvereins" gegründete Stadt in Texas. Der zehnjährige Junge, der auf der "Verrückt"-Wasserbahn starb, trug den Namen Caleb Thomas Schwab und war der Sohn eines republikanischen Abgeordneten des Repräsentantenhauses von Kansas. Wie genau er ums Leben kam, das muss jetzt untersucht werden. Es ist der erste tödliche Unfall in den "Schlitterbahn"-Wasserparks. Der erste in einer immer wilder wirkenden Vergnügungsindustrie ist es nicht.

Eine recht harmlose Achterbahn in London (im Jahr 1924). (Foto: Topical Press Agency/Getty)

In Deutschland geschah der schlimmste Unfall mit einem Fahrgeschäft vor 35 Jahren

In Deutschland geschah der bislang schlimmste Unfall mit einem Fahrgeschäft vor genau 35 Jahren, am "Hamburger Dom". Sieben Menschen starben, als ein Achterbahnbetreiber einen Kran irrtümlich in die Flugbahn eines Karussells schwenkte. Vor zwei Jahren ereignete sich das bisher letzte tödliche Unglück hierzulande: Ein elfjähriges Mädchen starb im pfälzischen Holiday Park, als es von einem Karussell mitgeschleift wurde.

Es ist merkwürdig: Einerseits legt die Gesellschaft größten Wert auf Sicherheit und gesunde Lebensweise. Andererseits sucht sie den Kitzel durch Höhe und Beschleunigung. Die tragische Geschichte des "Immer wilder, immer schneller" mit all seinen Folgen könnte im Jahr 1815 mit einem Knall begonnen haben, als sich im nordenglischen County Durham viele Schaulustige um einen "Brunton's Mechanical Traveller" versammelten. 16 Menschen starben, als es plötzlich den unter gewaltigem Druck stehenden Wasserkessel des "Dampfpferd" genannten Gerätes zerriss. Da ging es 1896 in London glimpflicher aus, als der Antriebsmechanismus des damals neu errichteten, ersten europäischen Riesenrades brach. Einige Dutzend Passagiere mussten die Nacht in großer Höhe verbringen. Sie wurden von den Klängen einer am Boden spielenden Militärkapelle unterhalten und von klettererfahrenen Seeleuten in 87 Metern mit Lebensmitteln versorgt.

Die derzeit höchste Wasserrutsche der Welt in Kansas. (Foto: dpa)

Das kennzeichnende Element aller Fahrgeschäfte, so hat es der Populär-Soziologe Sacha Szabo einmal formuliert, sei "ihre völlige Unproduktivität und scheinbare Sinnlosigkeit". Also etwas, das heute auch jedes Computerspiel auszeichnet. Nur, dass Computerspiele meist nicht lebensgefährlich sind. Der Rausch, dem sich der im Alltag gerne Fahrradhelm tragende, vegan lebende moderne Mensch ohne jede Not in Wingsuits, beim Bungee-Jumping oder mit der Familie auf der höchsten Wasserrutsche der Welt aussetzt, ist gefährlich. Der ungarische Psychoanalytiker Michael Balint beschrieb das Verlangen nach solchen Reizen bereits in den 1950er-Jahren als "Angstlust". Gemeint ist damit der Kick, dem man sich freiwillig aussetzt - bei gleichzeitiger Hoffnung, die Sache werde schon glimpflich enden. Natürlich sind auch schon vor 200 Jahren Menschen beim Klettern, Eislaufen oder Baden verunglückt - neu ist die Professionalisierung des "mit Furcht gemischten Glücksgefühls" (so der Berliner Technikhistoriker Stefan Poser). Tandemsprünge, Freeclimbing, Extrem-Mountainbiking - aus freien Stücken gibt sich der moderne Mensch, oft mit Familie, mittlerweile vielem hin. Wahrscheinlich, um seinen bewegungsarmen Büroalltag beim reizüberfluteten Rauschspiel kurz vergessen zu machen.

Dort, wo heute gehetzte Smartphone-Benutzer von Konferenz zu Konferenz eilen, so hat es der britische Historiker Peter Burke sinngemäß einmal formuliert, sei im Mittelalter noch "jeder Tag ein Fest" gewesen. An jeder Ecke habe es "professionelle Unterhalter gegeben", die vom Gerichtsprozess bis zur Bischofsweihe so ziemlich alles begleiteten, was vergnügungssüchtiges wie zahlfreudiges Publikum anlockte. Erst mit dem Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft in den Jahren zwischen 1750 und 1850 wurde die Unterhaltungsbranche eigenständig - zwischen Arbeit und Freizeit tat sich plötzlich ein tiefer Graben auf. Heute herrscht gesellschaftlicher Konsens darüber, dass es schon in Ordnung ist, wenn man das hart im Beruf erwirtschaftete Geld in ausgelassene Freizeitvergnügungen steckt. Hat man sich ja auch verdient.

Selbst, wenn TÜV und Sicherheitsbehörden in den vielen Spaßparks der Welt einen guten Job machen: Aus Gesundheitsgründen dürfte es gar nicht so schlecht sein, dass seit einigen Jahren noch etwas hinzugekommen ist, das der Zeithistoriker Hanno Hochmuth einmal die "Verhäuslichung des Vergnügens" nannte. Immer höher, immer wilder - das geht heute glücklicherweise auch virtuell, daheim am Schreibtisch, vor dem Computer.

Aus evolutionsbiologischer Sicht muss das kein Nachteil sein.

© SZ vom 11.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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