Selbstmordserie in Japan:Der Tod riecht nun nach faulen Eiern

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In Japan häufen sich Suizide mit Schwefelwasserstoff - es ist eine Art Mode wie einst der Rückzug in den Selbstmordwald am Fuße des Fuji.

Christoph Neidhart, Narusawa/Japan

Die Warnung, die vor kurzem an einer Wohnungstür in der japanischen Provinzstadt Konan klebte, kam zu spät: "Achtung, giftiges Gas tritt aus", stand da zu lesen. Doch zu diesem Zeitpunkt waren schon 21 Nachbarn mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus und 100 weitere Anwohner in Sicherheit gebracht worden. Ein 14-jähriges Mädchen hatte sich umgebracht, indem es Putzmittel mit einem Badesalz mischte. Dabei wurde Schwefelwasserstoff freigesetzt, ein Gas, das nach faulen Eiern riecht und in hoher Dosierung sehr schnell tödlich ist.

Letzte Reise zum Fuji: Im "Meer der Bäume" haben sich schon Hunderte Japaner selbst getötet. (Foto: Foto: Getty)

Ein paar Tage später wurden in Osaka neun Polizisten mit Schwefelwasserstoff vergiftet, als sie die Leiche eines Selbstmörders aus dessen Wohnung holen wollten. Auch sechs Kinder brauchten ärztliche Hilfe, weil das giftige Gas ihre benachbarte Schule erreicht hatte.

Die Liste der Selbstmörder, die mit ihrem Freitod auch andere gefährden, könnte lange fortgesetzt werden, denn Japan wird seit ein paar Monaten von einer neuen Suizidserie erschüttert. Allein seit März nahmen sich mehr als 180 Menschen durch das Inhalieren von Schwefelwasserstoff das Leben - eine Methode, die erst im Juli vergangenen Jahres zum ersten Mal in Erscheinung trat.

Anders als oft angenommen ist Japan zwar nicht das Land mit der höchsten Suizidrate. In einigen europäischen Ländern töten sich mehr Menschen. Aber in keinem anderen Land folgen die Lebensmüden derartigen Moden wie nun dem Freitod durch Schwefelwasserstoff, und in keinem anderen Land berichten die Medien so ausführlich darüber.

So wichtig wie die Art des Sterbens ist vielen Japanern auch der Ort. Früher war es zum Beispiel die Insel Izu-Oshima, wo vor allem junge Menschen in den Krater des Mihara-Vulkans sprangen, heute sind es an der japanischen Küste besondere Klippen, in Tokios Stadtteil Takeshimadaira ist es ein bestimmtes Hochhaus, und auch die Chuo-Linie der S-Bahn in Tokio gilt als richtiger Ort.

Kein Platz aber ist für Selbstmorde so berüchtigt wie der Aokigahara-Wald am Nordwesthang des Fuji, Japans heiligem Berg. Es ist ein dichter, dunkler Wald, durch den auch an einem Sommertag kaum Sonnenstrahlen gelangen. Weil er auf Lavaschotter gewachsen ist, bricht man beim Wandern leicht durch den Boden, und selbst Kompasse funktionieren nicht. Nicht zuletzt deshalb warnte die Polizei lange davor, das "Meer der Bäume" zu betreten, wie der Wald auch genannt wird. Und einmal im Jahr durchkämmte sie das Gebiet mit Hundertschaften und holte im Durchschnitt 100 Leichen heraus.

Besucht man die Gegend heute, so präsentiert sie sich weit freundlicher als früher. Blumen blühen, auf neu angelegten Wanderwegen und Straßen kommen einem Wanderer und Mountainbiker entgegen, und Busse bringen Touristen zu den Fledermaus- und Lavahöhlen. Auch die jährliche Leichensuche der Polizei gibt es nicht mehr, dafür aber patrouillieren nun Freiwillige im Wald. Sie sollen all die Menschen ansprechen, die sich verdächtig verhalten, und die Stellen im Wald kontrollieren, an denen sich die meisten Selbstmörder entweder aufhängen oder mit Medikamenten umbringen.

In Schnellkursen in Psychologie wurden sie auf solche Gespräche vorbereitet. Oft, so ist die Überzeugung, genügt es schon, mit Lebensmüden zu sprechen, um sie vom Freitod abzuhalten. Sollte dies aber nicht ausreichen, können sie die Polizei rufen. Darüber hinaus liegen in Holzkästen Merkblätter aus, um potentielle Selbstmörder umzustimmen. Und auch Taxifahrer wurden dazu angehalten, Fahrgäste ohne klares Ziel nicht in den Wald zu fahren.

Verloren im Schnee

Zwar sind die Leichenhäuser der umliegenden Dörfer trotz der Maßnahmen auch heute noch chronisch überfüllt, aber die Behörden machen keine Meldung mehr über jeden Selbstmörder. Auch über die Tatsache, dass Leichenfledderer im Wald unterwegs sind, die den Toten Geld, Uhren, Handys und Kreditkarten abnehmen, gibt es keine offiziellen Informationen. Die Medien sollen nicht mehr über die Suizide im Wald berichten, um nicht weiter für diesen Ort zu werben.

Im Aokigahara-Wald gab es schon immer vereinzelte Selbstmorde, aber als der Schriftsteller Seicho Matsumoto einen Krimibestseller schrieb, in dem eine von der Liebe schwer enttäuschte Frau sich in diesem Wald das Leben nimmt, fand das literarische Vorbild Hunderte Nachahmer. Auch das "Handbuch für Selbstmord", von dem mehr als anderthalb Millionen Exemplare verkauft wurden, empfiehlt das "Meer der Bäume" als geeigneten Ort zum Freitod.

Es liest sich wie ein makaberer Führer für die letzte Reise, in dem es auch Landkarten, Fahrpläne und Fotos der Haltestellen gibt, damit der Todeswillige die empfohlenen Selbstmordorte auch sicher findet. Außerdem wird erklärt, wie man sich an einem Baum erhängt, oder mit welchen Medikamenten man sich das Leben nehmen kann. Im Winter, so heißt es in diesem Handbuch, genüge es, abends tief genug in den Wald zu gehen, man verliere sich dann im nassen Schnee.

Die Online-Ergänzung des Selbstmordhandbuches ist wohl auch mitverantwortlich dafür, dass sich in jüngster Zeit so viele Japaner mit Schwefelwasserstoff umgebracht haben. Dort wird genau erklärt, wie die tödliche Mischung hergestellt wird. Manche Drogerien haben deshalb schwefelhaltiges Badesalz aus dem Sortiment genommen, und die Polizei von Osaka hat eine Methode entwickelt, das giftige Gas mit Aktivkohle zu neutralisieren.

Doch nicht jeder Todesfall durch Schwefelwasserstoff gehört in die Selbstmordserie. Vor kurzem hat die Polizei in der Präfektur Fukushima einen Mann verhaftet, der seine Mutter mit dem Giftgas töten wollte - als Suizid getarnt.

© SZ vom 19.06.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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