Schweden:Ein Tod zieht seine Spuren

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Vor einem Jahr wurde Außenministerin Anna Lindh in Stockholm niedergestochen - ein Besuch bei Bo Holmberg, der ihr Mann war.

Von Gerhard Fischer

Nyköping, im September - Am Tag, als Anna Lindh starb, wurde ihr Mann Bo Holmberg abhängig. Es gibt Augenblicke, die diese Abhängigkeit sehr anschaulich machen: Bei den Olympischen Spielen in Athen saß Holmberg mit seinen Söhnen David, 14, und Filip, 10, auf der Tribüne.

1994: Anna Lindh und ihr Mann Bo Holmberg mit ihren Söhnen Filip (links) und Daniel. (Foto: Foto: AP)

Vor ihren Augen lief die Schwedin Carolina Klüft zum Hochsprung an. "Sie sprang, die Latte wackelte, aber sie blieb liegen, und ich sah, wie meine Söhne aufsprangen und vor Freude schrien. Ich merkte, wie sie es genossen, und da genoss ich es auch."

Bo Holmberg ist davon abhängig, wie es seinen Söhnen geht. Es ist eine Abhängigkeit, die über das Maß hinausgeht, in dem Mütter oder Väter sonst mit ihren Kindern verbunden sind. Holmberg sagt es so: "Erst kommen die Kinder, dann kommt lange nichts, dann kommt wieder nichts, dann komme ich."

Am 10. September 2003 wurde seine Frau, die schwedische Außenministerin Anna Lindh, von dem psychisch labilen Mijailo Mijailovic in einem Kaufhaus in Stockholm niedergestochen. Die Ärzte kämpften eine Nacht lang um das Leben von Lindh, die schwere innere Verletzungen erlitten hatte. Am 11. September um 5. 29 Uhr starb sie, und mit David, Filip und Bo Holmberg trauerte ein ganzes Land. Anna Lindh, diese offene, direkte, Vertrauen einflößende Politikerin wäre wohl 2006 schwedische Regierungschefin geworden.

Bo Holmberg hat seine Frau am Morgen des 10. September 2003 zum letzen Mal lebend gesehen. Sie lief über den Marktplatz in der Kleinstadt Nyköping, knapp 100 Kilometer südwestlich von Stockholm. Holmberg saß in seinem Büro und blickte ihr hinterher. "Sie war gut gelaunt", sagt er, "ich habe es an ihrem Gang gesehen. Bei Menschen, die man kennt, sieht man es am Gang, wie es ihnen geht."

Ein Jahr später sitzt der Politiker Bo Holmberg wieder in seinem Büro. Er ist "landshövding" in der Provinz Sörmland, was etwa dem Amt des Ministerpräsidenten in Deutschland entspricht. Der 61-Jährige holt den deutschen Gast vor seinem Dienstzimmer ab. Sein Gang ist schleppend.

Zunächst spricht er über ein Gemälde an der Wand. Es zeigt Karl IX., einen Sohn des berühmten Gustav Vasa. Holmberg erzählt, dass Karl mit zwei Frauen aus Deutschland verheiratet gewesen sei. Die erste habe er sehr geliebt, die zweite habe er vor seiner Hochzeit nie gesehen.

Das ist sein Einstieg ins Gespräch, und so muss er nicht sofort über seine Frau sprechen. "Ich gebe fast kein Interview zu meiner Frau", sagt er, "ich schaffe es einfach nicht." Nun, vor dem Jahrestag des Attentats, hat er ein Medienunternehmen beauftragt, die Interviewanfragen zu bearbeiten. Die Journalisten bekommen dann in der Regel ein paar Blätter mit vorgefertigten Antworten von Bo Holmberg.

Wer ihn trifft, kann sehen, wie erschüttert dieser Mann ist. Da redet er über seinen letzten Blick auf Anna an diesem Morgen des 10. September, aber hinuntersehen auf den Marktplatz mag er nicht. Da sagt er über seine Zukunft: "Ich will nur die nächste Woche mit den Söhnen schaffen, und dann die übernächste Woche. Weiter denke ich nicht."

Mijailo Mijailovic hatte im Prozess gesagt, es sei "ein Zufall gewesen, dass es Anna Lindh traf. Ich hatte nichts gegen sie." Innere Stimmen hätten ihm befohlen, diese Frau zu attackieren.

"Ich glaube das nicht", sagt Bo Holmberg. "Er hat Anna angegriffen, weil sie die Außenministerin Schwedens war. Er hatte sich davon provoziert gefühlt, dass sie im Balkan-Krieg die Bombardierung seines Heimatlandes Serbien befürwortet hatte-das hat Mijailo Mijailovic der Zeitung Aftonbladet gesagt." Der Mörder habe gewusst, was er tat, sagt Holmberg.

Trotzdem hat das Stockholmer Oberlandesgericht in einem Berufungsverfahren verfügt, dass Mijailovic in eine geschlossene Anstalt eingewiesen werden soll. Die Staatsanwaltschaft hat dieses Urteil angefochten, und demnächst wird in dritter Instanz vor dem höchsten Gericht Schwedens eine endgültige Entscheidung fallen: lebenslange Haft oder Einweisung in die Anstalt. Es gibt fünf Regionalkliniken in Schweden, in denen psychisch kranke Straftäter untergebracht sind. Die modernste von ihnen liegt in Sundsvall, etwa 400 Kilometer nördlich von Stockholm.

"Mijailovic wäre uns willkommen", sagt deren Leiter Erik Söderberg. "Wenn er wirklich psychisch krank ist, braucht er Hilfe, und die bekommt er hier." Früher habe man Kliniken für psychisch Kranke wie Gefängnisse geführt, sagt Söderberg, er setze hingegen auf den Glauben, dass sich der Mensch verändern könne - das sei moderne psychiatrische Pflege.

Söderberg hat die Klinik vor 13 Jahren übernommen, und er hat damals gesagt, er brauche ausreichend Geld und Personal, um seine Pläne zu verwirklichen. Er hat es bekommen. In der Klinik kümmern sich nun fünf Psychiater, fünf Psychologen, 25 Krankenschwestern und -pfleger um 72 Patienten. "Das sind bessere Bedingungen als in der Allgemeinen Psychiatrie", sagt Söderberg.

Mijailovic war wenige Tage vor dem Attentat an der Tür der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses abgewiesen worden. Nach dem Mord kam heraus, dass die Allgemeine Psychiatrie in Schweden große Mängel hat, und dass diese Mängel auf eine gut gemeinte, aber dilettantisch durchgeführte Reform in den neunziger Jahren zurückzuführen sind. Vorsitzender dieser Reformgruppe war - Bo Holmberg, damals Mitglied des schwedischen Reichstages.

"Wir wollten, dass Anstalten geschlossen werden, und dass die psychisch Kranken stattdessen von den Kommunen in Wohngruppen untergebracht werden sollten", sagt Holmberg, "wir wollten sie damit besser in die Gesellschaft integrieren." Die Regierung machte zahlreiche Anstalten zu, aber die Kommunen erfüllten ihre Aufgabe nicht. "Alle 248 schwedischen Gemeinden sollten vorlegen, wie viele psychisch Kranke es bei ihnen gibt-das ist nicht passiert", erklärt Bo Holmberg. "Sie sollten Handlungspläne für jeden entwickeln-auch das ist nicht geschehen." So blieben viele ohne Hilfe, und einige drehten durch und töteten Mitmenschen, so wie Mijailovic.

Die Regierung beschloss nach dem Mord an Anna Lindh, den Kommunen weitere 22 Millionen Euro zur Pflege psychisch Kranker zur Verfügung zu stellen. Aber verwenden die Gemeinden das Geld wirklich für die Psychiatrie? "Wer kann das schon genau kontrollieren?", fragt Erik Söderberg. Auch die Sache mit den Leibwächtern wurde nicht grundlegend verändert. Als Anna Lindh getötet wurde, schützte sie kein Bodyguard, und die Sicherheitspolizei "Säpo" wurde dafür heftig kritisiert.

Heute stellt die "Säpo" den Politikern ein paar Leibwächter mehr zur Verfügung, und 2005 sollen weitere dazukommen. "Aber wir sind längst nicht auf dem Niveau von anderen europäischen Ländern", sagt Bo Holmberg. Warum nicht? Er zieht die Schultern hoch. "Ich konstatiere das nur", sagt er. "Ich engagiere mich nicht in dieser Frage."

Er hat anderes zu tun. Er arbeitet zum Beispiel für den Anna-Lindh-Gedenkfonds. Der Fonds organisiert auch die Gedenkfeier am Samstag in Stockholm, zu der unter anderem Joschka Fischer kommen wird. Außerdem lese er viel, sagt Holmberg, zum Beispiel Romane, in denen Leute großen Schwierigkeiten ausgesetzt werden, so wie er.

Ist Gott ein Trost? "Nein, ich war nicht religiös, und ich bin es auch jetzt nicht geworden", sagt er. Seine Söhne, die von Psychologen betreut werden, würden manchmal vom Himmel reden und davon, wo die Mutter jetzt lebe. Der zehnjährige Filip habe einmal gesagt: "Wenn sie da draußen irgendwo ist, warum kommt sie dann nicht zu uns?" Ein Mensch, sagt Bo Holmberg in seinem Politiker-Büro, könne diese Frage nicht beantworten.

© SZ vom 10.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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