Russland sucht den Super-Knacki:Stars in Streifen

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In Moskau treten Häftlinge zum öffentlichen Gesangswettbewerb an - die ersten fünf Gewinner sollen freigelassen werden.

Von Tomas Avenarius

In den USA kommen die Künstler in den Knast: Folk-Gott Johnny Cash etwa sang vor quer gestreiftem Publikum in Sing-Sing, B.B. King spielte den Jailhouse-Blues vor den fachkundigen Zuhörern im Cook-County-Jail (gnadenlos ausgebuht wurden bei dem legendären Konzert nur der anwesende Gefängnisdirektor und der örtliche Richter). In Russland hingegen geben die Knackis selbst die Konzerte. Am Freitagabend werden in Moskau Häftlinge auftreten - und sich möglicherweise in die Freiheit singen: Die ersten fünf des Wettbewerbs sollen freigelassen werden.

Gesucht hinter Gittern und Stacheldraht wird Russlands Superstar und möglicher neuer Stern am Pop-Himmel. Ausgewählt für den "Roter Schneeballstrauch-Wettbewerb" wurden 23 Kandidaten aus den rund 720.000 Strafgefangenen, die in den quer über Russland verteilten 748 Lagern, 195 Gefängnissen und 64 Erziehungslagern einsitzen. Wer mit seiner Nummer beim gesamtrussischen Knast-Konzert gewinnt, wird möglicherweise sofort freigelassen: das Justizministerium als oberster Konzertmanager behält sich allerdings die Entscheidung im Einzelfall vor. Die Chance jedenfalls besteht.

Ein Justizministeriumssprecher sagte dann auch der Moscow Times: "Dieser Wettbewerb ist weltweit einmalig." Womit er wohl Recht hat. In der Jury sitzen unter anderem ein früherer Kulturminister und Theatermacher, eine populäre Sängerin und Michail Tanitsch, der gleich in zweifacher Hinsicht vom Fach ist: er ist nicht nur Komponist, sondern saß auch selbst im Lager. Fast schon paradox ist, dass dieses Experiment ausgerechnet in Russland gewagt wird: Das Land ist immer für die brutale Härte seiner Gefängnisse bekannt gewesen.

Schon die Zaren ließen Rechtsbrecher und politisch Missliebige in sibirischen Straflagern schuften, der Diktator Josef Stalin schickte Millionen Menschen zum Arbeiten und Sterben in seine Gulag-Strafkolonien. Selbst im heutigen Russland ist das Gefängnis eine Art staatlich finanzierte Vorhölle: Die Untersuchungsknäste sind so überfüllt, dass die Häftlinge weniger als einen Quadratmeter Lebensraum haben und deshalb oft in Schichten schlafen müssen. Der Vollzug in den Strafkolonien ist gnadenlos und hart, im Lager regieren die Kriminellen, viele Häftlinge kommen nach Jahren mit Tuberkulose oder Aids zurück in die Freiheit.

Knast und Kunst klingen in Russland allerdings auch leichter zusammen als anderswo: In einem Land, in dem ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung aufgrund von totalitärer Herrschaft, harten Gesetzen und einem unberechenbaren Justizsystem die gefürchteten Lager in persönlicher Anschauung kennen gelernt hat, kommen Häftlingslieder und Knastjargon an. Wladimir Wyssotzkij etwa ist 23 Jahre nach seinem Tod noch immer überaus populär. Der Sänger und Schauspieler erzählte in seinen Liedern immer wieder über die "Seki", die Eingesperrten und die Angeketteten. Die Sänger Michail Schufutinskij und Iwan Kutschin hatten - anders als Wyssotskij - selbst lange genug gesessen, auch Katja Ogonjok verbrachte Jahre im Lager. Sie alle wussten also, wovon sie erzählten: Von Arbeit bis zum Umfallen, der Herrschaft korrupter Aufseher und den brutalen Regeln der Kriminellengesellschaft hinter Gittern, an deren Spitze allmächtige "Diebe im Gesetz" nach eigenem Kodex herrschten und dabei auch noch ihre Geschäfte im Lager betrieben. Aus dieser bis heute im tristesten Moll gestimmten Welt kann sich an diesem Freitag eine Handvoll russischer Häftlinge heraussingen. Das schreit schon vor dem ersten Einsatz nach einem "da capo".

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