Russland:140.000 Kinder warten auf Adoptiveltern

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Trotz der Schwierigkeit, einheimische Eltern für Heimkinder zu finden, sind russische Politiker unglücklich über die hohe Zahl der Auslandsadoptionen.

Von Daniel Brössler

Moskau - Noch vor wenigen Monaten war der Name der dreijährigen Viktoria aus Sankt Petersburg einer auf einer langen Liste von 140.000. So viele Kinder sind es, die derzeit in Russland auf Adoptiveltern warten.

Ihre Namen werden geführt in einer Datenbank des Bildungsministeriums in Moskau. Viktoria, die von Kanzler Gerhard Schröder und seiner Frau Doris adoptiert wurde, hat Glück gehabt. Ebenso die russischen Kinder, die von Günther Jauch und seiner Frau Thea oder auch Schlagersänger Patrick Lindner adoptiert wurden.

Denn für viele in der Datenbank findet sich keine Familie. Nur 14.500 Minderjährige würden jedes Jahr adoptiert, sagt Galina Trostanetzkaja, Direktorin im russischen Bildungsministerium. Zehn Mal so viele Adoptionen würde sie sich wünschen.

Schätzungsweise 700.000 Kinder leben in Russland ohne elterliche Aufsicht, nur der allerkleinste Teil von ihnen sind aber wirklich Waisen. Zumeist kommen sie aus zerrütteten und verarmten Familien und wurden von den Eltern sich selbst überlassen.

Kinder in Russland sind die schwächsten Opfer eines durchlässig gewordenen sozialen Netzes, wie selbst die Weltbank beklagt. Die Veränderungen der 90er Jahre hätten für die Russen zwar "aufregende Möglichkeiten" eröffnet, konstatierte sie in einem Bericht. Wirtschaftlicher Niedergang und sozialer Wandel hätten aber viele Familien erschüttert. "Im Ergebnis hat das Wohlergehen der russischen Kinder gelitten."

Zwar versuchen die russischen Behörden, Pflegefamilien für die verlassenen Jungen und Mädchen zu finden, doch damit sind sie nur zum Teil erfolgreich - etwa 220.000 Kinder leben nach Angaben von Trostanetzkaja in ganz Russland in Heimen.

Nach einer Anfang des Jahres veröffentlichten Studie der US-Organisation Kidsave International haben acht von zehn Russen noch nie daran gedacht, ein Waisenkind zu adoptieren. Traditionell seien Russen wenig geneigt, fremde Kinder in ihre Familie aufzunehmen, meint Eric Batsie, Direktor des Moskauer Kidsave-Büro, weil sie es für die Aufgabe des Staates hielten, sich um elternlose Kinder kümmern. Außerdem gebe es "immer noch das Vorurteil, Waisenkinder seien schlechte Kinder".

Auch deshalb ist die Aussicht auf das Leben in einer Familie für russische Heimkinder oft auch die Aussicht auf ein Leben im Ausland. Nach dem Gesetz können Ausländer zwar nur dann russische Kinder adoptieren, "wenn keine Möglichkeit besteht, diese Kinder in einer Familie russischer Bürger aufwachsen zu lassen".

Angesichts der Warteliste erweist sich dies aber als kein Hindernis. Etwas mehr als die Hälfte der neuen Eltern sind Ausländer, im Jahr nach Trostanetzkajas Angaben etwa 7500. "Nur ganz wenige der Eltern kommen aus Deutschland", sagt sie. Der überwältigende Teil der ins Ausland adoptierten Kinder beginnt vielmehr ein neues Leben in den USA. An zweiter Stelle steht Spanien.

Trotz der Schwierigkeit, einheimische Eltern für Heimkinder zu finden, sind russische Politiker unglücklich über die hohe Zahl der Auslandsadoptionen. Die Kontrolle müsse verschärft werden, forderte erst im Juni die Vorsitzende des Familienausschusses der Duma, Jekaterina Lachowa. "Wir sind nicht gegen Adoptionen. Natürlich brauchen Kinder eine Familie, aber wir müssen wissen, wie die Kinder in den neuen Familien im Ausland leben", sagte sie.

Allein in den USA seien sechs russische Kinder getötet worden. Vor zwei Jahren hatte ein Fall in Wolgograd für Aufsehen gesorgt. Einer Adoptionsvermittlerin war vorgeworfen worden, in Hunderten Fällen russische Kinder verkauft zu haben. Bestätigt haben sich die Vorwürfe aber nicht.

Nach den Erfahrungen Batsies von Kidsave ist es in Russland vergleichsweise leicht, auf offiziellem Wege ein Kind zu adoptieren. Normalerweise beanspruche das sechs bis 18 Monate.

Zwar können sich Eltern in spe selbst um eine Adoption bemühen, zumeist aber nutzen sie die Dienste einer der 90 Vermittlungsagenturen mit einer Zulassung des Bildungsministeriums. In jedem Fall müsse alles "streng nach dem Gesetz" ablaufen, jede Adoption erfordere die Zustimmung eines Gerichts, betont Trostanetzkaja. Dabei werde vor allem geprüft, "ob die Eltern gesund sind, über Arbeit verfügen und das Kind angemessen unterbringen können".

Rentner etwa könnten keine Kinder adoptieren. Ein Alter von 60 Jahren - wie im Falle Schröders - sei aber kein Hindernis, "sofern keine gesundheitlichen Probleme vorliegen".

© SZ vom 18.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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