Rückkehr der vergessenen Früchte:"Rettet die Bratbirne"

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Weiße Erdbeeren, in Pergament verpackte Pfirsiche und Kirschen, die aussehen wie Oliven - Feinschmecker kämpfen gegen das Verschwinden seltener Obst- und Gemüsesorten.

Patricia Bröhm

Sie ist keine Schönheit, aber sie hat Charakter. Die rundliche Champagner-Bratbirne wurde schon 1760 urkundlich erwähnt - als "Weinbirne allerersten Ranges".

Das Aus für die Bratbirne: Die Menschheit ernährt sich nur noch von ein paar Dutzend Pflanzen. (Foto: Foto: dpa)

Trotzdem wäre die alte Obstsorte wohl ausgestorben, hätte nicht ein junger Gastwirt von der schwäbischen Alb ihr Potential erkannt.

Jörg Geiger erbte nicht nur den elterlichen Gasthof "Lamm" im Dörfchen Schlat bei Göppingen, sondern auch die Streuobstwiesen mit bis zu 150 Jahre alten Birnbäumen.

Aus Erzählungen wusste Geiger, dass sein Großvater aus den Früchten einen schmackhaften Obstwein zu bereiten verstand.

Also begann er zu experimentieren. Von den ersten 200 Flaschen explodierte die Hälfte im Keller, wo deshalb eine Zeitlang Helmpflicht herrschte. D

Die überlebenden Flaschen aber enthielten Vielversprechendes: einen fein moussierenden Schaumwein mit Aromen von reifen Birnen und Muskat.

Heute ist aus dem Experiment die Manufaktur Jörg Geiger geworden, mit einem breiten Angebot an Obstweinen und Destillaten aus alten Obstsorten. Schlater Gaishirtle, Dollenseppl Kirsch oder Palmische Birne - so heißen die aromatischen Sorten, die Geiger vor dem Vergessen bewahren will.

Ohne sein Engagement hätten sie dasselbe Schicksal erlitten wie viele andere alte Obstsorten, die für den auf Masse ausgerichteten modernen Tafelobstanbau nicht geeignet waren und irgendwann ausgemustert wurden, weil sie zu kleine Früchte trugen oder ihre Erträge von Jahr zu Jahr zu sehr schwankten.

Der Schlachtruf des von Geiger gegründeten Vereins zur Erhaltung alter Obstsorten lautet: "Rettet die Champagner-Bratbirne." Die Vielfalt der Nahrungspflanzen ist weltweit bedroht.

Jedes Jahr gehen Dutzende alte Arten auf ewig verloren, "einfach nur deshalb, weil niemand sie mehr anbaut", wie der Verein "Arche Noah" beklagt.

Carlo Petrini, Präsident der Organisation Slowfood, sieht im Verschwinden alter Arten einen unwiederbringlichen Kulturverlust: "Der Großteil der Menschheit ernährt sich heute nur noch von ein paar Dutzend Pflanzen", mahnt er. "Im 19. Jahrhundert haben noch 250.000 Nutzpflanzen den Hunger der Welt gestillt."

Zahlen aus den USA belegen dies: 1903 wurden dort noch 408 Arten Erbsen angebaut, 1983 nur noch 25. Von 357 Zwiebelarten gibt es nun in den USA nur noch höchstens 21, von 55 Kohlrabisorten nur noch drei, von 578 Gartenbohnensorten nur noch 32.

Auf der Feinschmeckermesse Salone del Gusto in Turin traf Obstbauer Jörg Geiger Gleichgesinnte. Die Veranstaltung ist ausschließlich nach traditionellen Rezepten hergestellten Produkten gewidmet. Gut 600 Aussteller aus aller Welt sind vertreten, die Bandbreite reicht vom Turiner Edelchocolatier bis zum Bauern aus Peru.

Beim Salone del Gusto in Turin stehen Produkte im Mittelpunkt, die kaum noch hergestellt oder angebaut werden. (Foto: Foto: AFP)

Organisiert wird der Salone del Gusto alle zwei Jahre von Slowfood, jener Organisation, die der Journalist Carlo Petrini 1989 aus Protest gegen die Eröffnung des ersten Fast-Food-Lokals in Italien gründete. Heute zählt die Bewegung etwa 80.000 Mitglieder und setzt sich gegen den Vormarsch industriell gefertigter Lebensmittel ein.

Das Augenmerk von Slowfood gilt Produkten, die vom Aussterben bedroht sind, weil sie in einem zunehmend homogenisierten und globalisierten Markt keine Chance haben.

Darunter sind auch viele alte Obstsorten - von weißen Erdbeeren aus dem chilenischen Purén über Datteln aus der Siwa-Oase im Nordwesten Ägyptens bis zu den Pfirsichbauern aus dem sizilianischen Leonforte.

Mit viel Einsatz widmen sie sich einer alten, spät reifenden Pfirsichsorte, die nur noch in ihrem Dorf im Zentrum der Insel überlebt hat. Jede einzelne Frucht wird im Juni am Baum sorgfältig in Pergamentpapier verpackt.

So liebevoll und chemiefrei vor Schädlingen und Unwettern geschützt, reift eine goldgelbe, aromatische Frucht, die erst von September an geerntet wird und schon in ganz Italien Kultstatus genießt.

Auf der Suche nach Lebensmitteln, die es zu schützen gilt, reisen Petrini und seine Mitarbeiter auch in Europas entlegendste Winkel. Zum Beispiel nach Siebenbürgen in Transsylvanien. In den winzigen Dörfern, wo noch Deutsch gesprochen wird, existieren weder asphaltierte Straßen noch Autos.

Lasten werden per Pferdekarren transportiert, Mobiltelefone finden kein Netz. Dafür gibt es eine unberührte Natur, in der Wildpflanzen überlebt haben, die man sonst nirgendwo mehr in Europa findet.

Aus diesem verlorenen Paradies sind Gerda Gherghiceanu und andere Frauen nach Turin gekommen, um die Marmeladen vorzustellen, die sie nach den Rezepten ihrer einst aus dem Rheinischen eingewanderten Vorfahren aus Früchten des Waldes und alten Obstsorten herstellen.

Die Besucher des Salone del Gusto konnten Konfitüren aus Walderdbeeren und wilden Brombeeren probieren, aus Hagebutten und Cornellkirschen, halbwilden Früchten, die aussehen wie rote Oliven und süß-säuerlich schmecken.

Die Diskussionen in Turin um genmanipulierte Lebensmittel und nachhaltige Landwirtschaft hat Gerda Gherghiceanu mit Interesse verfolgt. "Bei uns im Dorf leben wir alle ökologisch", sagt sie. "Für uns ist das ganz normal." Und das schmeckt man auch.

© SZ vom 7.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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