Reportage:Eine Muschel als letzte Hoffnung

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Phuket im Süden Thailands, zwei Tage nach der schlimmsten Katastrophe seiner Geschichte: "So ist der Mensch wohl - er denkt, er sei unangreifbar." Eine Frau sucht ihren Sohn, ein Mann trauert um Freunde, und ein Paar findet sich wieder - Begegnung mit Überlebenden, deren Welt für immer aus den Fugen geraten ist. Von Kai Strittmatter

"So ist der Mensch wohl", sagt der Mann aus Konstanz, der drei Freunde verloren hat, "er denkt, er sei unangreifbar." Er wirft sich seine in einem großen Reissack verstauten Habseligkeiten über die Schulter. Schweigt.

Weihnachten feierten sie dieses Jahr am Strand, die junge Frau aus Stuttgart und ihre Freunde, bei der "Happy Lagune", wo sie abends immer ein paar Stühle und einen Tisch in den Sand stellten und man unter den Sternen von einer offenen Garküche aus bedient wurde. Sogar an einen Weihnachtsbaum hatte Andrea Leger gedacht: eine kleine Tanne aus Papier, die man 24 Stunden vorher mit "Zauberwasser" beträufeln musste, und die dann zu Zwergtannengröße aufquoll. Aus dem tragbaren CD-Spieler drangen Weihnachtslieder: Luciano Pavarotti und Patricia Kaas im Duett. Es gab Bescherung für die Kinder.

Andrea Leger arbeitet als Flugbegleiterin, seit vier Jahren schon kommt sie mit ihrem kleinen Sohn Tim hierher an den Strand von Khao Lak, der flach und sanft ins Meer hinein führt, wie geschaffen für Kinder. "Tim hat gerade schwimmen gelernt", erzählt sie. An diesem Heiligen Abend durfte Tim im Sand von Khaolak die Spiderman-Figur auspacken, die er sich schon so lange gewünscht hatte, und zwei Bücher, Einstimmung auf die Einschulung im nächsten Jahr. Tim selbst hatte auch ein Geschenk: für die zehnjährige Sophia. Er war nämlich ein klein wenig verliebt in sie. Später schenkte Tim auch der Mutter etwas: eine kleine Muschel.

Von allen Dingen hat Andrea Leger dies gerettet: eine Muschel mit blauem Hut und rotem Rand, der am flachen Ende ein Stück herausgebrochen ist.

Als vor der Küste von Indonesien um neun Uhr morgens die Erde bebt, da maunzt in einem der Strandbungalows von Khao Lak eine schläfrige Deutsche ihren Mann an, er solle sich bitteschön nicht so im Bett herumwälzen. Keine Stunde später kommt das Wasser. Manche haben geschrieben von einer Monsterwelle, die über die Insel Phuket hereingebrochen sei, von einer Riesenwand, der sich die Menschen mit einem Mal gegenübergesehen hätten. Aber so war es nicht, erzählen die, die überlebt haben. Das Meer ist einfach angeschwollen, der Ozean hat sich gehoben, hat sich Land geholt, von dem die Menschen so fest glaubten, es sei ihres, dass sich noch jetzt Verblüffung mischt in all ihre Geschichten von Furcht und Trauer. "Wo vorher kein Wasser war, war plötzlich Wasser", erzählt einer. So einfach war das. So tödlich. Zwei Meter, vier Meter, sechs Meter hoch: Wasser. Unter blauem Himmel und strahlender Sonne. Rasend schnell ging das alles - mit der Kraft einer Wassersäule, die mit der Geschwindigkeit eines Jumbo-Jets, aber tückischweise nur mit winzigem Wellenkamm den Ozean durchquert und dann auf Grund läuft.

Wie erlebten es die Menschen, als der Tsunami Thailand traf?

Ein junger Deutscher, der in einer Hütte am Bangniang-Strand lebte, lag mit Freunden im Swimmingpool, als er plötzlich Wasser auf sich zukommen sah: "Ich dachte zuerst, das sei ein Rohrbruch."

Der Brite Paul Andrews ritt die Welle- und hätte es beinahe nicht gemerkt: Er saß im Steuerraum einer 55-Meter-Yacht, die 800 Meter vor der Küste Phukets ankerte, und als die erste Welle unter dem Schiff durchrollte, da schaukelte die Yacht lediglich ein wenig. Er merkte allerdings, was dann folgte, als die Welle sich zurückzog: "Wir ankerten in neun Meter Wasserhöhe und fielen mit einem Mal auf zwei Meter Wasserhöhe ab. Und das Land war plötzlich nur noch 50 Meter entfernt." Er warf den Motor an, die Yacht rettete sich aufs offene Meer: ein Ort, sicherer als der Strand an diesem Tag.

Der Konstanzer Jochen Zeidler stand mit Freunden am Strand und beobachtete, wie sich Thai-Fischerleute zankten, weil ihre Boote plötzlich auf dem Trockenen lagen. Mit einem Mal, sagt er, habe sich das Meer rasend schnell zurückgezogen. "Als habe einer den Stöpsel in der Badewanne gezogen." Lauf! Hol' den Fotoapparat, rief ihm sein Freund zu. Und er lief, um den Apparat zu holen.

Ein deutsches Mädchen stand mit dem Gesicht zum Meer, als das Wasser kam. Lauf!, habe sie ihrem Freund zugerufen, erzählte sie später deutschen Botschaftsangehören. Das Wasser! Der Freund stand mit dem Rücken zum Meer, dachte, sie mache einen Scherz, lachte. Und lief nicht.

Ein anderer Deutscher und seine Tochter lagen auf ihren Betten, als das Wasser den Bungalow traf. Sie wurden gegen die Decke gedrückt. Durchschlugen das Dach aus Eternit. "Als nächstes weiß ich nur noch, wie die Wellen mich zweimal hinaus und wieder zurückgetragen haben. Dann bekam ich einen Baum zu fassen."

Die Flugbegleiterin Andrea Leger war auf dem Weg zum Markt. Ihren fünfjährigen Sohn hatte sie zuvor bei Freunden gelassen, in einem anderen Strandhotel. "Plötzlich", erzählt sie, "kamen Autos und Häuser auf uns zugeschwommen, in einer großen braunen Suppe. Die Thai schrien alle: ,rennt, rennt!' Also rannten wir." Sie rannten weit, dann nahmen Thai sie mit, auf der Ladefläche ihres Wagens. Hoch, bloß hoch. In die Berge. Bei einem Wasserfall sammelten sich ein paar, saßen da, stundenlang. Wussten weder, was war, noch was tun. Und vor allem nicht: Was war mit den Freunden?

Und was war mit Tim? Zurück trauten sie sich lange nicht. Immer neue Gerüchte wurden erzählt, von Nachfolgewellen, die erwartet wurden, so hoch wie ein Hochhaus. Ein Bekannter wagte sich schließlich hinab. Und brachte schlechte Kunde: Der Strand von Khao Lak war weg. "Nichts. Da steht nichts mehr. Unser Hotel war aus Steinen erbaut, auch das liegt in Trümmern. Die Palmen, die stehen da noch - aber den Strand dazu, den gibt es nicht mehr." Stattdessen waren dort Leichen in Bäumen.

Die Kinder? Tims Freund Paul wurde auf dem Wasser paddelnd gefunden. Auch Sophia wurde gerettet. Von Tims Freund Theo fehlt bislang jede Spur. So wie auch von Tim.

Im Garten und in den Gebäuden des Gemeindezentrums von Phuket-Stadt ist eine Notfallzentrale eingerichtet. Hierher kommen sie alle, die sich gerettet haben, mit nicht viel mehr als der Badehose am Leib. Sie kommen von den besonders schwer betroffenen Flecken wie dem Patong-Strand, eben noch die Partymeile Phukets, sie kommen von dem nördlicher gelegenen Kamala-Strand, dem völlig zerstörten Eiland Ko Phi-Phi oder eben von Khao Lak, dem bei Deutschen so beliebten Urlaubsgebiet nördlich von Phuket, wo Tim und Andrea Leger den deutschen Winter aussitzen wollten. Geld und Pass haben hier die wenigsten. Listen von Vermissten hängen aus, von denen, die im Krankenhaus liegen, Bilder von Ertrunkenen und Erschlagenen, zur Indentifikation. Helfer verteilen Wasser, Bananen, Melonen, Pizza, freundliche thailändische Studenten übersetzen: deutsch, englisch, französisch.

Andrea Leger hat sich hier gemeldet: Sie hilft mit am Tisch der Deutschen Botschaft, Namen aufnehmen, Ersatzdokumente beantragen. Auskunft erteilen, trösten. Schon auf dem Fluchtberg über Khao Lak wollte sie nicht einfach abwarten, dort schon hatte sie begonnen, Listen zu erstellen. "Ständig werden neue Verletzte angekarrt, bestimmt liegen noch viele in den Bergen oder anderswo und warten auf Hilfe." Sie ist schließlich Flugbegleiterin, trainiert für das Verhalten im Katastrophenfall. "Zum Nachdenken", sagt sie, "bin ich nicht mehr gekommen, seitdem ich begann, um mein Leben zu rennen." Vielleicht könnte man auch sagen, sie hat es noch nicht zum Nachdenken kommen lassen, seitdem sie ihren Sohn vermisst.

Die Hilfe ist schnell und unbürokratisch hier im Rettungszentrum, doch an verlässliche Informationen zu kommen, ist schwer. Aber was bedeuten diesen Menschen, die es hier anschwemmt, Zahlen und Statistiken schon? Gerüchte von neuen Flutwellen machen die Runde. Von Leichenbergen auf Phi Phi, die noch nicht abtransportiert seien, erzählt der Yacht-Steuermann. Und die Menschen reden von sich selbst. Von Autos, die es in ihre Hotellobby geschwemmt habe, von den Hausdächern, auf denen sie standen. Ein Österreicher erzählt, wie er sich inmitten der Flut an einen Pfosten geklammert hatte, während seine Frau sich an ihm festhielt. Und ans Bikinioberteil seiner Frau, da klammerte sich verzweifelt noch ein Dritter, der beleibte Nachbar, der nicht schwimmen konnte. Der Bikini riss, der Nachbar trieb weg. "Ehrlich gesagt", beichtet der Österreicher, "meine Frau hat gebetet: Wann reißt endlich der Bikini, der Mann drückt mir ja die ganze Luft ab."

Wilfried Scheyling aus dem Schwarzwald spricht ganz leise. Von seiner Frau, die den Tsunami überlebt hat. Um am Tag darauf im Krankenhaus zu sterben: an einer Blutvergiftung. Nachdem sich stundenlang keiner um sie gekümmert habe, sagt er, auch nicht die Deutsche Botschaft in Bangkok. Trauer schwingt da mit, und Groll. Nun organisiert er einen Sarg. Und die Abholung durch ein Bestattungsunternehmen am Flughafen Frankfurt, am nächsten Morgen. Andere erzählen dankbar von den vielen Thailändern, die ihnen Geld, Kleider und Unterschlupf schenkten. Das darf man nicht vergessen: dass der Tsunami auch im Touristenparadies Phuket die meisten Opfer unter der lokalen Bevölkerung forderte.

Unter den Reisenden immer wieder: großer Unglauben. Darüber, dass die Natur noch solche Gewalten bereit hält - für uns! Dass der Mensch die Welt doch noch nicht völlig domestiziert hat. "Wir haben nicht alles im Griff", sagt Jochen Zeidler aus Konstanz. Die Katastrophe ist eingebrochen in gleich zwei der heiligsten Refugien, die sich der moderne westliche Mensch geschaffen hat: Weihnachten und Urlaub. Phuket ist seit mehr als einem Jahrzehnt deutsches Traumland: Palmen, Sonnen und Strände wie von der Postkarte in den Indischen Ozean gesprungen - und um die Idylle perfekt zu machen: deutsche Bäcker, deutsche Metzger und deutsche Rechtsanwälte dazu. Ein Mallorca in Asien. Mit billigem Sex für die einen und Elefantenritten für die anderen. Weihnachten bei mehr als 30 Grad. Im Royal Phuket City Hotel verkaufen sie in diesen Tagen Zimtsterne für die Deutschen und Christmas Pudding für die Briten.

Jochen Zeidler ging früher immer nach Südamerika. "Das wurde mir dann zu gefährlich." Zum sechsten Mal ist er nun auf Phuket. "Die Seele baumeln lassen. Fischen, grillen, lesen." Immer im gleichen Resort: den Bird Beach Bungalows am Kamala-Strand. Bielefeld, Köln, München - die Strandbewohner kannten sich. In Kamala sieht man heute aufgeschlitzte, aufgebrochene Häuser, aus denen Palmwedel, Seegräser und Stromleitungen wie Gedärme herausquellen. Ein Schild an einem Baumstamm: "Bar open." Die Bar dazu gibt es nicht mehr.

Jochen Zeidlers Zimmer im ersten Stock ist noch wie unberührt, im Bungalow gegenüber hat es ein Auto in die Veranda gedrückt. Das Mädchen aus dem Zimmer darunter ist verschwunden. Jochen Zeidler ist der Mann mit dem Reissack. Nicht, weil er keinen Koffer mehr hätte: "Aber wenn die nächste Welle kommt, bin ich mit einem Reissack schneller", hatte er gesagt, als wir ihn das erste Mal trafen, weit im Landesinneren. Jochen Zeidler zeigt Fotos: vor dem Unglück. "Der hier hat sich die Hand gebrochen."- "Und die hat ihre Mutter verloren." Drei seiner Bekannten sind tot. Über sich selbst sagt er: "Ich feierte am Sonntag meinen zweiten Geburtstag." Das nächste Foto zeigte den Mond über den Palmen. Ein Idyll, dem zu diesem Zeitpunkt noch zehn Stunden blieben.

Im Gemeindezentrum hat Andrea Leger die Hand eines alten Mannes genommen. "Wir wurden getrennt", sagt der tonlos. "Ich habe mich noch an einem Auto festkrallen können." Andrea Leger erzählt dem Mann die Geschichte von Jens, mit dem sie die Nacht auf dem Berg verbrachte. Auch solche Geschichten gibt es hier heute: Zwei Tage waren Jens und seine Familie getrennt, jetzt, vor zehn Minuten, kam die Frau mit zwei Kindern ins Zentrum, völlig aufgelöst. Andrea Leger sah den Nachnamen, stutzte, fragte: "Heißt ihr Mann etwa Jens?" Die Frau begann zu weinen. Er war es. "Mir kam die Gänsehaut", sagt Andrea Leger. Und dann, zu dem alten Mann: "Geben Sie die Hoffnung nicht auf!"

Sie öffnet ihre linke Hand. Zum Vorschein kommt die kleine Muschel, die an der Spitze beschädigt ist: "Das ist die Muschel meines Sohnes. So lange ich die in der Hand habe, so lange lebt er."

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