Österreich:Eine Katastrophe aus heiterem Himmel

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In Sölden versuchen Ermittler zu klären, wie ein Hubschrauber den Betonkübel verlieren konnte, der das Seilbahnunglück ausgelöst hat.

Heiner Effern

Als am Dienstagmorgen auf dem Rettenbachferner die ersten Sonnenstrahlen das schmutzig-graue Eis wärmen, herrscht ungewohnte Stille in dem Gletscherskigebiet. Keine jungen Skifahrer, die zur Talstation der Schwarzen Schneid-Bahn wuseln.

Keine Trainer, die ihnen noch ein paar Anweisungen zurufen. Ein paar Hundert Meter über dem Parkplatz liegt eine silberne Kabine auf einem Geröllfeld, herausgerissen aus ihrer Verankerung. Um die Gondel sind eine weiße Rettungsdecke, eine Tasche und ein einzelner Skier verstreut.

Eine andere Kabine hängt noch oben am Seil nahe der Stütze Nummer vier. Vom Plexiglas der Fenster ist nur noch ein kleines Stück im Rahmen. An einer unteren Stütze zeigen die Rollen, über die das herausgerissene Seil normalerweise läuft, in den Himmel.

So viel Pech auf einmal

Am Tag nach dem Gondelunglück in den Ötztaler Alpen, das sechs Mädchen und Jungen aus dem Schwarzwald und drei bayerische Betreuer - zwei Skilehrer aus Mittenwald und der Pressewart der Skiabteilung des TSV Gilching - das Leben gekostet hat, müssen Betroffene und Angehörige, Retter und Ermittler einsehen, dass ihr Vorstellungsvermögen der Realität nicht gewachsen ist.

Sie können einfach nicht begreifen, wie viel Pech auf einmal zusammenkommen kann: Ein mit 90 Stundenkilometer bergauf fliegender Helikopter verliert einen ein Meter großen Betonkübel und trifft damit aus etwa 200 Metern Höhe ausgerechnet das Seil der Gondel und eine Kabine für acht Personen.

"Unfassbar", sagen Touristen und Gastgeber in Sölden wieder und wieder. Manche greifen in ihrer Ratlosigkeit nach einer Formulierung, die der zum Unglücksort geeilte Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe nutzt: "Das war eine Verkettung unglücklicher Umstände."

Der leitende Notarzt Alois Schranz hat so ein Unglück noch nie erlebt: "Da ist es genauso wahrscheinlich, dass man von einem Meteorit getroffen wirst." Genauso müssen sich die sechzehn Insassen der drei betroffenen Kabinen gefühlt haben.

In der abgestürzten Gondel sterben drei Betreuer, zwei Kinder überleben. "Vielleicht weil sie Helme und Rückenprotektoren trugen", vermutet der Gilchinger Betreuer Jörg Bies. Zwei Kinder, die schon vorher mit der Bahn abgefahren waren, haben jeweils ein Elternteil verloren.

Eine Kabine weiter bergwärts erwischt es noch schlimmer: Sechs Kinder zwischen elf und dreizehn Jahren werden durch die Plexiglasfenster aus der Gondel geschleudert und stürzen mehr als 20 Meter ab. Sie sind auf der Stelle tot. Die Jungen und Mädchen gehören zu einem Kader des Bezirks Schwarzwald im Schwäbischen Skiverband.

Bezirkschef Günther Hujara, zugleich Renndirektor beim Internationalen Skiverband, ist sofort nach dem Unglück nach Sölden gereist. Immer wieder bricht ihm seine Stimme bei der Pressekonferenz am Dienstag. Mehrmals muss er Pausen einlegen, um die Tränen zurückzuhalten.

"Der Schmerz der Eltern ist so groß. Deshalb gegen wir auch nicht die Namen der Kinder bekannt. Bitte lasst die Eltern in Ruhe", mahnt er die Journalisten. In aller Stille werden die Angehörigen später an diesem Dienstag in einem Gottesdienst Abschied von ihren Lieben nehmen.

"Gondeln sind fast 180 Grad gependelt"

Diese sind wie die anderen 22 Kinder der Gruppe am frühen Montagmorgen zum Gletscher heraufgekommen, um mit ihren fünf Betreuern bei strahlendem Sonnenschein zu trainieren. Gegen 13 Uhr fahren sie mit der Seilbahn zurück ins Tal.

Nina Schöchle, Trainerin beim Verein Rheinbrüder Karlsruhe, hat zu diesem Zeitpunkt auf dem Parkplatz gerade ihre Skier vom Autodach abgeschnallt. Eine Frau sei an ihr vorbei gelaufen und habe geschrieen: "Da ist einer aus der Gondel gefallen", berichtet sie.

Wie viele andere rennt Nina Schöchle um die Talstation herum und traut ihren Augen nicht, wie sie später berichtet: "Die Gondeln sind fast 180 Grad gependelt." Die Trainerin selbst ist nur fünf bis sechs Kabinen vor den Unglücksgondeln mit ihren Schützlingen ausgestiegen, ihr Trainerkollege liegt im Krankenhaus. "Der hat 1000 Schutzengel gehabt, er wurde aus der Gondel unterhalb der abgestürzten geschleudert." Dazu sind mehrere Kinder ihres Vereins unter den sieben Verletzten, die sich alle außer Lebensgefahr befinden.

Bei der Suche nach der Ursache konzentriert sich alles auf die Frage, wie sich der unbeschädigte Haken am Hubschrauber, an dem das Seil mit dem Kübel hing, öffnen konnte. Roy Knaus, Geschäftsführer der Helikopter Firma, hat mit seinem traumatisierten Piloten, der 35 Jahre alt ist und erst seit einem Monat die Erlaubnis für solche Flüge besitzt, kurz gesprochen: "Er sagt, er habe weder die elektronische noch die mechanische Klinke gelöst."

Staatsanwaltschaft und Polizei ermitteln wegen fahrlässiger Tötung gegen unbekannt und haben den Piloten bereits vernommen. Überladen scheint der Hubschrauber, der flüssiges Beton transportierte, ersten Erkenntnissen zufolge nicht gewesen zu sein. "Wir wollen eine lückenlose Aufklärung" spricht Hujara für die Eltern der verstorbenen Kinder.

Die schwierige Aufgabe, das Unglück mit den Betroffenen aufzuarbeiten, liegt beim Kriseninterventionsteam (KIT) des Roten Kreuzes. Am Tag danach hören sie viel zu und schauen nach den Bedürfnissen der Traumatisierten.

"Wir gehen in kleinen Schritten vor: Wie übersteht man die nächsten Stunden, den nächsten Tag", sagt Barbara Juen, Psychologin und fachliche Leiterin des KIT in Tirol. Erwachsene werden bei der immer wiederkehrenden Frage nach dem "Warum" unterstützt, Kinder lernen im Spiel Stress abzubauen. Doch bei aller Hilfe weiß Barbara Juen: "Wer von einem solchen Unglück betroffen ist, vergisst das nie."

© SZ vom 07.09.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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