Neapel und der Müll:Im Gestank der Unterwelt

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Mit den Abfallbergen wächst der Zorn der Bürger auf unfähige Politiker und die Mafia - und der Wunsch nach jemandem, der richtig aufräumt

Stefan Ulrich

Neapel, 10.Januar - Es ist, als schwitze die Stadt eine böse Krankheit aus. Weiße, blaue, gelbe und schwarze Müllbeutel quellen aus ihrem Inneren und sammeln sich wie stinkende Tropfen auf ihrer Haut.

Kein Durchkommen in "San Giorgio a Cremano", in der Nähe von Neapel. (Foto: Foto: dpa)

Manche der Säcke, die da in meterhohen Haufen auf Straßen und Plätzen liegen, sind fest verschnürt und gärungsprall, andere ergießen sich auf Bürgersteig und Fahrbahn. Fisch- und Fleischreste, fauliges Gemüse, verwesende Pizzastücke, zerrissene Unterhosen, Batterien und Tampons rutschen heraus.

Autos zermanschen den Unrat zu Brei, Motorini schlängeln sich zwischen den Abfallhügeln hindurch. Die feuchte Nachtluft nimmt den Schweißgeruch Neapels auf. Faulig riecht er, und süß, und wer hungrig angereist ist, mit dem Abendzug, dem vergeht der Appetit.

Die ersten Begegnungen - mit dem Barmann an der Piazza Garibaldi am Hauptbahnhof, mit dem Taxifahrer und mit dem Mann an der Rezeption des Hotels - verlaufen gleich. Der Fremde schweigt, betreten. Die Neapolitaner kommen zur Sache.

"Es sind alles Diebe"

"Es ist eine Schande", sagen sie. "Wir sind am Ende." Die ganze Welt ekle sich vor ihrer Stadt. Und: "Sono tutti ladri." Das bedeutet: Es sind alles Diebe. Gemeint sind die Politiker, von der Bürgermeisterin über den Regionspräsidenten bis hinauf zum Premier in Rom.

Seit anderthalb Jahrzehnten schindet der Müllnotstand Neapel und die umliegende Region Kampanien. Ein, zwei Mal im Jahr quillt der Abfall über auf die Straßen, weil die Deponien überfüllt sind.

Acht Sonderkommissare hat Rom entsandt, am Mittwoch kam der neunte, ein früherer Polizeichef, dem ein Armeegeneral sekundieren soll. Milliarden Euro sind aus der Hauptstadt und aus Brüssel geschickt worden. Das Ergebnis: So schlimm, wie in diesen Tagen, das sagen alle, war es noch nie.

Gerüche und Gerüchte

Wenn die Innenstadt Neapels die Vorhölle ist, dann ist Pianura das Inferno. Gut 100 000 Menschen leben in dem Gebiet an der nordwestlichen Peripherie in Häusern, die meist illegal auf vulkanischem Grund errichtet wurden. Sie liegen scheinbar idyllisch zwischen Orangenhainen, Palmengärten, Hügeln mit Wein.

Hier tobt seit Tagen eine Schlacht, in der sich alles vermischt: der Müll, die Verzweiflung der Bürger, die Gier der Camorra, die Krawalllust linker und rechter Provokateure, die Überforderung der Polizisten, die Ignoranz der Politiker, der Hass, der Gestank, die Gewalt.

Der stinkende Schweiß soll ersticken

Anwohner befreien die Hauptstraße in Pianura, einem Vorort von Neapel, mit einfachen Besen. (Foto: Foto: dpa)

Dabei sollte Pianura die Wende zum Besseren bringen und den schlimmsten Müllnotstand beseitigen. In dem Vorort haben Experten ein Gebiet ausgemacht, wo der stinkende Schweiß Neapels fürs Erste versickern soll.

Hier, in einem alten Vulkankrater, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg 43 Jahre lang Unrat vergraben und aufgeschichtet.

300 Meter hoch, sagen Geologen, türme sich der Abfall, der nun von Gras und winterkahlen Bäumen bedeckt ist. 1996 wurde die Deponie geschlossen, die Menschen konnten aufatmen.

Nun aber soll diese gnädige Kruste aufgerissen werden, um einen Teil der 120000 Tonnen Müll abzuladen, die sich in den vergangenen zwei Wochen in Neapel und Kampanien angesammelt haben.

Die Bürger sind empört

Natürlich sind die Bürger von Pianura empört. Wer hier ankommt, wird sofort umringt. "Wir sind der Schrottplatz ganz Europas", sagt eine junge Frau in verwaschenen Jeans und schwarzem Anorak, die sich mit ihren Einkaufstüten einen Weg durch den Unrat bahnt, der die Straße zur alten Deponie bedeckt.

Ihren Nachnamen will Anna, wie die meisten, nicht nennen. Man wisse ja nie, flüstert sie, im Land der Camorra. Dann klagt sie, in Pianura gebe es drei Mal so viele Krebsfälle wie im italienischen Durchschnitt.

Diffuse Ängste wabern durch Pianura, wo Abfallhaufen auf den Straßen kokeln und sich Gerüche mit Gerüchten mischen. Tatsächlich dürfte in der Deponie vieles gelandet sein, was nicht hineingehört.

Denn in all den vergangenen Jahrzehnten holte die Camorra Sondermüll aus dem Ausland nach Kampanien, um ihn an Orten wie Pianura billig zu verbuddeln.

"Wenn man alle Abfälle, die von den Clans illegal beseitigt wurden, aufeinanderschichten würde, entstünde ein 14600 Meter hoher Berg mit einer Basis von drei Hektar", hat der neapolitanische Schriftsteller und Camorra-Experte Roberto Saviano gerade vorgerechnet.

"In ein paar Tagen bricht die Cholera aus"

"Ganz Kampanien ist eine biologische Bombe", sagt Luisa, eine Frau, die mit Anna beim Einkaufen war. Sie deutet auf die Abfallberge. Ihre Stimme wird schrill: "In ein paar Tagen bricht die Cholera aus."

Das ist vielleicht übertrieben - auch wenn es in Neapel 1973 einen Ausbruch der Seuche gab. Die Daten der Weltgesundheitsorganisation zeigen auch, dass etliche Krebsarten in Kampanien häufiger auftreten als im Landesdurchschnitt.

"Viele Kinder kommen mit Missbildungen zur Welt." Die Ursache? "In unserer Deponie wurden giftige Abfälle aus vielen Ländern vergraben." Sie flüstert wieder: "Sogar Atommüll aus deinem Deutschland. Wenn man die Deponie jetzt wieder aufmacht, kommt das alles hoch."

Die Menschen haben Grund zum Demonstrieren. Tagsüber kommen friedliche Bürger hierher, etliche mit ihren Kindern. Sie wachen an den mit Betonblöcken, Bäumen und Fahrzeugen blockierten Zufahrten zur Deponie.

Nachts mischen sich Krawallmacher unters Volk. Sie zünden den Abfall auf den Straßen an, bewerfen Polizisten mit Steinbrocken und kapern Linienbusse, die sie in Brand setzen. In der Nacht zum Donnerstag zündeten sie ein Feuerwehrauto an.

Sieben Feuerwehrleute wurden verletzt. Die Leute sagen, viele dieser Burschen würden von der Camorra bezahlt, um Unruhe zu stiften. Die Mafia verdiene an der Krise weit besser als an einer geregelten Entsorgung.

Die täglichen Versprechen, die Krise zu lösen, ernten nur noch Spott

Zudem sei es gefährlich, sich in Neapel gegen die Herrschenden aufzulehnen. Dann verliere plötzlich der Sohn seinen Job, oder die Familie fliege aus der Wohnung. Die täglichen Ankündigungen der Regierung in Rom, die Müllkrise jetzt aber wirklich gleich, nein, sofort zu lösen, werden hier nur noch mit Spott aufgenommen.

Es wird dunkel in Pianura. Burschen in Lederjacken rasen auf Mopeds zwischen den Menschen hindurch. Einige kommen aus der Krawallszene. Sie sondieren das Terrain für die nächtlichen Aktionen. "Die anderen sind Falken", sagt Valentina, eine Jurastudentin. Falken? "So nennen wir die Spitzel der Polizei in Zivil. Sie schauen nach, wie viele Demonstranten hier sind, und wie die Stimmung ist."

"Ich fühle mich schmutzig"

Die Bürger aber sind sauer, wenn sie nun von manchen Politikern und Journalisten in einem Atemzug mit Camorristen genannt werden. "Wir sind also Mafiosi, so einfach ist das", höhnt Giuseppe, ein pensionierter Kapitän zur See, der in Pianura lebt.

"Ich habe die ganze Welt gesehen", erzählt er. "Leider. Denn überall ist es besser als hier in Neapel." Schuld daran sei die ganze politische Klasse. "Sono tutti ladri", fauchen die dabeistehenden Männer. Warum wählen sie dann keine ehrlicheren Politiker?

"Weil es keine gibt", schimpft ein Lehrer, der sich der Linken zurechnet. Die Linke regiere seit Jahrzehnten Neapel und Kampanien. Das Ergebnis sei beschämend. Auch die Rechte sei nicht besser, wie die frühere Regierung unter Silvio Berlusconi in Rom demonstriert habe.

Wohin mit den Müllmassen

Die Stimmung ist schlecht. Denn die Menschen haben Angst vor noch mehr Müll in ihrer Deponie. Doch wo soll er sonst hin, der Abfall auf den Straßen von Neapel? Viele antworten: "Wir wissen es nicht."

Der Müll hat die Neapolitaner ratlos gemacht. Sie sehen darin das Symbol, dass ihr politisches System verrottet ist, in der Stadt, in der Region, im ganzen Land. Hört man sich um, so erlebt man, wie durchaus besonnene Leute, auch solche, die sich der Linken zurechnen, von Mussolini-Zeiten schwärmen.

"Die Kluft zwischen Bürgern und Politikern ist gewaltig geworden", sagt Enrico Rebeggiani. "Das gilt für ganz Italien und besonders für Neapel. Denn wer die Menschen betrügt und Zynismus lehrt, der zerstört das Vertrauen.

Die sozialen und politischen Folgen werden wir in den kommenden Generationen erleben." Der Mann im Holzfällerhemd ist Soziologieprofessor an der Universität Federico II.

Sie ist nach ihrem Gründer, dem Stauferkaiser, benannt, der vor 800 Jahren Süditalien regierte und bis heute für seine effiziente Staatsverwaltung gerühmt wird.

Auch die Rechte will ein Stück vom Kuchen

Derzeit aber ist, so Rebeggiani, eine Politikerkaste am Werk, die zusammen mit korrupten Unternehmern und der Camorra die Region ruiniere. Dabei sei die regierende Linke darauf bedacht, auch der Rechten Stücke vom Kuchen abzugeben.

Die Folge: "Es existiert hier in Neapel keine echte Opposition." Reformen von innen könnten so nicht gelingen. "Es gibt keine Perspektive mehr - wenn nicht ein Eingreifen von außen." Durch wen? Der Professor lacht: "Europa, die amerikanische Armee, Marsmännchen, wer weiß?"

Rebeggiani kennt sein Neapel. Seit Jahrzehnten lebt er in den "Spanischen Vierteln", einem Altstadtbezirk voller enger Straßen, der als Camorra-verseucht gilt. In seinem Büro steht ein Mountain-Bike, mit dem er durch Neapel fährt.

Die Müllberge ekeln ihn. "Ich fühle mich schmutzig. Ich fühle mich schlecht. Mir wird übel." Überrascht aber hat ihn die Krise nicht. "Sie war völlig vorhersehbar. Seit zehn Jahren wiederholt sie sich regelmäßig.

"So zerstören wir die Demokratie"

Von Mal zu Mal wird es schlimmer. Doch es passiert nichts." Kein Politiker räume Fehler ein oder trete zurück. "So zerstören wir die Demokratie."

Dabei wäre es keine Zauberei, den Müllnotstand zu lösen. Andere Regionen in Italien haben das vorgemacht - mit Mülltrennung, Wiederverwertung und dem Verbrennen des Restes in Fabriken, die Strom erzeugen.

In Brescia steht eine der modernsten derartigen Anlagen Europas. In Kampanien dagegen wird seit 14 Jahren darüber geredet. Noch immer wird kaum Müll getrennt, ist keine Verbrennungsanlage im Betrieb.

Deswegen bleibt der Unrat auf der Straße. Deswegen müssen Soldaten Schülern den Weg in die Klassen freischaufeln. Deswegen hat der Bürgermeister von Sorrent - dem legendären Seebad am Golf von Neapel - gerade den Markt schließen lassen. Die Gesundheitsgefahren wären zu groß.

Umgebung Neapels noch stärker betroffen

Viele Orte in der Umgebung Neapels hat es noch stärker getroffen als die Großstadt, am schlimmsten vielleicht San Giorgio a Cremano. Eine Vorstadtbahn fährt zu der wuchernden 50000-Einwohner-Gemeinde am Fuß des Vesuvs.

Wo in Neapel Abfallhaufen liegen, ragen hier Wälle aus Müll empor. Vor einem Supermarkt ist die Mauer aus Unrat abgeschrittene 22 Meter lang und vier Meter breit. Eine Frau, die durch einen Durchlass ins Geschäft geht, hält sich die Nase zu.

Eine andere drückt ein Taschentuch vors Gesicht. Eine Dritte ruft dem Müll Flüche entgegen. Eine alte Dame bittet den Fremden, sie am Arm zwischen den stinkenden Säcken hindurchzuführen. Sie hat Angst hineinzufallen. "Das hier ist so widerlich", sagt die Verkäuferin am Eingang.

Ein Rat voll guter Redner

Drei Gehminuten weiter, in der Via Flotard de Lauzieres, türmt sich der nächste Wall. Gegenüber hat ein Mandarinenhändler sein Wägelchen auf dem Bürgersteig abgestellt, irgendwo muss er ja seine Früchte verkaufen.

"Sono tutti ladri", sagt auch er. "Italien war das schönste Land der Welt, aber diese Banditen haben es ruiniert." Ein paar Männer stehen herum, nicken. Keiner will auch nur seinen Vornamen nennen. Aber ihre Meinung sagen, das möchten sie schon.

"Wenn die Camorra stärker ist als der Staat, warum lassen wir uns nicht von der Camorra regieren?", meint ein älterer Herr, der sich als Hotelier ausgibt. Ein anderer sagt: "Ich bin Demokrat. Aber nun ist es Zeit, den Knüppel auszupacken. Wir brauchen einen Duce."

Auch im Stadtrat wird über den Müll debattiert. Rechte und linke Ratsherrn schieben sich, rhetorisch brillant wie zu Ciceros Zeiten, die Schuld zu. Sie sprechen von "Drama" und "Notstand".

Dutzende Bürger hören im Hintergrund zu. Einer der Stadträte meint: "Nach dieser Sitzung gehen die Leute wieder auf die Straße, sehen die Müllberge und fragen sich: Was wird jetzt eigentlich getan?"

Einer, der es wissen sollte, ist der Bürgermeister, Domenico Giorgiano, ein Arzt und ein anständiger Mann, wie auch Gegner im Ort zugestehen. Er hat in Italien Schlagzeilen gemacht, weil er wegen des Mülls die Schulen und die ganze Gemeinde schließen wollte.

Eine Weisung aus Rom zwang ihn, den Unterricht fortzuführen. Nun droht er: "Wenn uns der Staat verlässt, könnten wir noch viel stärkere Signale senden." Deutlicher werden möchte der 56-Jährige nicht. Er wirkt erschöpft.

Bloß keine Hitze

"Wir leben im größten Elend", seufzt er. "Zum Glück regnet es im Moment nicht, und es ist ziemlich kalt. Daher ist das Risiko von Epidemien noch gering. Aber das kann sich bald ändern."

Auf die Frage, was er tun werde, verzieht Giorgiano das Gesicht. "Wir in der Gemeinde haben keine Entscheidungsmacht", klagt er. "Wir sind abhängig von der Region und dem Staat. Dort wird bestimmt, wie diese Probleme zu lösen sind."

Da drängt sich der Einwand auf, ob nicht die Mülltrennung, die es in San Giorgio praktisch nicht gibt, Aufgabe der Gemeinde wäre. Gewiss, räumt er ein. Man arbeite daran. Hätte das nicht schon vor 20 Jahren geschehen müssen? Der Bürgermeister lächelt müde. "Ja. Diesen Fehler haben wir gemacht."

Doch auch die Bürger trügen Mitschuld, weil sie sich nicht für Mülltrennung interessiert hätten. Ob das jetzt besser wird? "Bestimmt", meint der Bürgermeister und fasst sich an die Gurgel, "denn mittlerweile steht uns der Müll bis zum Hals."

© SZ vom 11.01.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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