Nach falscher Diagnose in die Psychiatrie:Eingesperrt in einen Albtraum

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Jahre musste sie in geschlossenen Abteilungen verbringen, obwohl sie nicht psychisch krank war - nun kämpft Waltraud Storck vor Gericht um eine Entschädigung.

Peter Fahrenholz

Es ist die Geschichte eines gestohlenen Lebens. Eines Albtraums, der vor mehr als 30 Jahren begonnen hat und der vielleicht niemals enden wird. Dieser Albtraum ist allgegenwärtig im Leben von Waltraud Storck, und einzelne Teile davon tauchen immer wieder auf.

Waltraud Storck im Interview mit einem TV-Team (Archivbild). (Foto: Foto: ddp)

Da ist die Angst vor Ärzten. "Alles, was mit Ärzten oder Krankenhäusern zu tun hat, ist für mich der Horror", sagt sie. Und da sind die Erinnerungen. An die Freundin Brigitte zum Beispiel, ihre Zimmergenossin, die ihr, als sie sediert von Psychopharmaka im Bett vor sich hindämmerte, noch das Blutwurstbrot vom Abendessen brachte, ehe sie die Station verließ und sich vor einen Zug warf.

Es ist aber auch die Geschichte der Psychiatrie in Deutschland, einer Disziplin, in der es noch äußerst rückständig zuging, als die Bundesrepublik längst ein modernes, weltoffenes Land war. Waltraud Storck ist ein Opfer dieser Psychiatrie.

Als Mädchen und junge Frau hat sie insgesamt vier Jahre in diversen psychiatrischen Kliniken verbracht. Ohne richterlichen Beschluss. Vollgepumpt mit einer Unmenge verschiedener Psychopharmaka. Wegen einer Diagnose, die mit großer Sicherheit von Anfang an falsch gewesen ist und die später nie mehr revidiert wurde, obwohl dazu genug Gelegenheit gewesen wäre.

"Alles war verboten"

Heute ist Waltraud Storck 49 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl und ist zu 100 Prozent erwerbsunfähig. Seit 14 Jahren kämpft sie in diversen Prozessen gegen verschiedene Kliniken um Wiedergutmachung. Sie will, "dass die Kliniken endlich belangt werden". Dass die Verantwortlichen ihre Schuld eingestehen. Die meisten Prozesse hat sie verloren.

Die letzte Hoffnung ist jetzt ein Revisionsverfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt gegen das Landeskrankenhaus in Gießen. An diesem Dienstag soll in Frankfurt eine Entscheidung fallen, aber auch dieses Verfahren sieht nicht gut aus für sie. Dass Waltraud Storck unendlich gelitten hat, ist zwar unübersehbar. Aber zu beweisen, welche medizinische Maßnahme welchen Schaden nach sich gezogen hat, ist eine andere Sache.

Als Kind hat Waltraud Storck Kinderlähmung, danach ist sie leicht gehbehindert. Aber ansonsten ist sie ein lebhaftes und offenbar sehr phantasiereiches Kind. In der Schule habe sie sich "völlig normal verhalten", erinnert sich ihre ehemalige Klassenlehrerin im Gymnasium, Hildegard Moos. "Ihr soziales Verhalten war absolut intakt." Umso überraschter ist die Lehrerin, als Anfang 1974 die Eltern bei ihr auftauchen.

Hildegard Moos kann sich noch heute, mehr als 30 Jahre später, genau an die Formulierung erinnern, die der Vater gebraucht hat. Die Tochter sei "vom Teufel besessen" und müsse in die Klinik für Jugendpsychiatrie in Frankfurt.

So unauffällig die Situation in der Schule ist, so konfliktbeladen ist offenbar das Leben in der Familie. Die Atmosphäre ist kalt und lieblos. Der dominierende Vater erlaubt seinen vier Kindern praktisch nichts. Einen Fernseher gibt es nicht, draußen zu spielen ist untersagt. "Es war ein sehr reserviertes, bürgerliches Elternhaus mit einem pietistischen Hintergrund", sagt die ehemalige Lehrerin.

"Alles war verboten", sagt Waltraud Storck, immer wieder habe es Schläge gegeben. Als der Vater sie einmal abends mit Bravo-Heften im Zimmer erwischt, die sie sich von einer Freundin geliehen hatte, verprügelt er seine Tochter und zerreißt die Hefte. Die Freundin bekommt ganz korrekt das Geld erstattet.

Waltraud lehnt sich immer wieder heftig auf gegen die vielfältigen Verbote des Vaters, den Eltern wächst das widerspenstige Kind offenkundig über den Kopf. Sie wird zu einer Psychologin geschickt, die bei Waltraud Storck Hebephrenie diagnostiziert, jugendliches Irresein, eine Unterform der Schizophrenie.

Zwanzig Jahre später wird der emeritierte Psychiatrieprofessor Reinhart Lempp in einem Gutachten zu dem Schluss kommen: "Retrospektiv kann heute davon ausgegangen werden, dass bei Frau Storck zu keinem Zeitpunkt eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis vorgelegen hat."

Auch der Hannoveraner Psychiater Hinderk Emrich kommt in seinem Gutachten für das Oberlandesgericht Frankfurt zum gleichen Ergebnis. Dass Waltraud Storck ihre aggressiven Ausbrüche immer nur zu Hause gezeigt habe, während sie sich in der Schule völlig normal verhalten habe, "hätte einen sehr stutzig machen müssen", sagt Emrich vor Gericht. Mit "allergrößter Wahrscheinlichkeit" habe "keine Schizophrenie" vorgelegen, so der Gutachter.

Lesen Sie auf Seite zwei, wie Waltraud Storck in die geschlossene Abteilung gerät.

Hätte man das Mädchen damals von der Familie getrennt und in andere Obhut gegeben, wäre Waltraud Storck das ganze Unglück ihres Lebens vermutlich erspart geblieben. So aber nimmt ein geradezu unglaubliches Verhängnis seinen Lauf. Auch nach diversen stationären Aufenthalten bessert sich die häusliche Konfliktsituation nicht.

Der Blick aus einem vergitterten Fenster in einer psychatrischen Klinik. (Foto: Foto: ddp)

Der Vater ist die treibende Kraft, um seine Tochter wieder in die Psychiatrie zu bringen. "Der Vater suchte quer durch Deutschland Klinken, wo er mich einsperren konnte", sagt sie. Schließlich wird er 1977 in Bremen fündig, in einer Privatklinik, die auf Alkoholkranke spezialisiert ist. "Die Klinik war bekannt dafür, unliebsame Angehörige wegzusperren", sagt Waltraud Storck.

Obwohl sie damals schon 19 ist, gelingt es dem Vater mit einem Trick, seine Tochter zur Einwilligung zu bewegen. Sie hat kurz zuvor mit Freunden in einem Geschäft etwas geklaut, eine Jugendsünde. Wenn sie nicht ins Krankenhaus gehe, werde sie wegen dieser Sache verurteilt, dann sei sie vorbestraft und werde nie eine Arbeit finden, droht der Vater.

In Bremen kommt Waltraud Storck gleich auf die geschlossene Abteilung. Die falsche Diagnose wird einfach übernommen. Sie wehrt sich immer wieder heftig, einmal gelingt ihr die Flucht, doch am Bremer Hauptbahnhof wird sie aufgegriffen und zurückgebracht. "Ich bekam Unmengen von Medikamenten, um mich gefügig zu machen", erinnert sie sich.

Nach dem gescheiterten Fluchtversuch werden ihr, so sagt sie, 19 Ampullen Haldol gespritzt, ein schweres Neuroleptikum. Immer wieder wird die ungebärdige Patientin "fixiert", das heißt, sie wird ans Bett gefesselt, einmal sogar an einen Heizkörper. Nach 18 Monaten auf der geschlossenen Abteilung, ohne richterlichen Unterbringungsbeschluss, kann Waltraud Storck wenigstens erreichen, ins Landeskrankenhaus Gießen verlegt zu werden, näher an ihre Heimat.

Von Medikamenten schwer sediert, kommt sie im April 1979 dort an und unterschreibt irgendein Papier. Die Klinik legt das in dem späteren Prozess als Einwilligung aus. Obwohl Waltraud Storck erneut versucht zu fliehen, gibt es auch hier keinen richterlichen Beschluss, die volljährige Patientin wird damit nach Ansicht ihres Anwaltes rechtswidrig festgehalten.

Auch in Gießen gibt es keine Eingangsuntersuchung, in der die Diagnose überprüft wird. Der Gutachter Emrich nennt das vor Gericht einen "bedauerlichen Tatbestand im Hinblick auf die Arbeit meiner Kollegen". Auch in Gießen bekommt Waltraud Storck Unmengen von Medikamenten, in einer Dosis, die in den Augen des Gutachters "viel zu hoch" war.

Eine Mitpatientin, die entlassen wird, ist schließlich der rettende Engel für Waltraud Storck. Gegen den Rat der Ärzte nimmt sie sie bei sich zu Hause auf. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlebt Storck so etwas wie Geborgenheit. Es beginnt dann aber sehr schnell ihre zweite Leidenszeit. Waltraud Storck verliert ihre Stimme und kann für elf Jahre nicht mehr sprechen.

Ob das eine Folge der jahrelangen Medikation war, ist bis heute ungeklärt. Und es entwickelt sich bei ihr ein sogenanntes Post-Polio-Syndrom, eine Spätfolge ihrer Kindheitserkrankung.

Aus der Fachliteratur sind Zusammenhänge zwischen diesem Post-Polio-Syndrom und der hochdosierten Gabe von Neuroleptika bekannt. Aber gibt es einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen den Medikamenten und den schweren motorischen Störungen? "Das kann ich nicht sicher sagen, ich möchte da nichts Falsches sagen", erklärt Gutachter Emrich vor dem Oberlandesgericht. Die Klinik in Gießen, um die es in diesem Prozess ausschließlich geht, ist damit vermutlich aus dem Schneider.

Für Waltraud Storck, die trotz ihrer Sprachlosigkeit eine Ausbildung zur technischen Zeichnerin macht und für kurze Zeit fit genug ist, um zu arbeiten, beginnt dann Anfang der neunziger Jahre erneut eine Odyssee durch die Krankenhäuser. Sie ist körperlich schwer angeschlagen, hat unerträgliche Schmerzen. In der Klinik in Mainz, wohin sie zunächst kommt, wird sie trotzdem weiter als Psychofall behandelt. "Die einzige Therapie war eine Psychotherapie", erzählt sie.

Mitleid mit dem Vater

Sie soll mit Wasserfarben malen. Vor lauter Schmerzen und Kraftlosigkeit liegt ihr Kopf oft neben dem Malkasten. Die Therapiegespräche kann sie wegen der Schmerzen meist nur liegend durchstehen. Einmal fordert die Therapeutin sie auf, sie möge doch aufstehen, mit einer am Boden liegenden Patientin zu sprechen, sei so entwürdigend. Erst 1993 wird Storck in einer Klinik im Allgäu orthopädisch richtig behandelt. 1992 hat sie auf einer logopädischen Spezialstation wieder sprechen gelernt.

Es bleiben viele Fragen offen in dem Fall. Etwa das komplizierte Verhältnis zur Familie. Den Krankenakten konnte Waltraud Storck später eindeutig entnehmen, dass die eigene Familie, allen voran der Vater, dafür sorgte, dass sie in der Psychiatrie weggesperrt blieb. In den Akten findet sich ein Brief des Arztes der Mutter, die selbst immer wieder wegen Psychosen in Behandlung war. Darin warnt der Mediziner dringend, die Tochter zu entlassen. Dadurch könne sich der Gesundheitszustand der Mutter verschlechtern.

Lesen Sie auf Seite drei, warum Waltraud Storck ihren Vater nie angezeigt hat.

"Meine Familie hätte mich zugrunde gehen lassen", sagt Storck. Trotzdem hat sie ihren Vater nie angezeigt. Warum nicht? "Der hat mich doch nicht eingesperrt, das waren die Ärzte, deswegen verklage ich die", sagt sie.

Als sie 1993 unter dem Pseudonym "Vera Stein" ihr erstes Buch über ihre Erlebnisse in der Psychiatrie schreibt (inzwischen sind drei weitere Bücher erschienen) und das Buch auch ihren Eltern schickt, kommt ein Brief des Vaters. Sinngemäß heißt es darin, es sei damals ein böses Unheil über die Familie gekommen. Den Brief will Waltraud Storck, die sonst jedes Dokument bereitwillig kopiert, nicht aus der Hand geben. "Das wäre ihm nicht recht gewesen", sagt sie.

Als ob sie noch nachträglich auf jene Liebe und Anerkennung hofft, die sie nie bekommen hat. 2002 stirbt der Vater. Die Tochter besucht ihn noch ein letztes Mal, sieht ihn, wie er dement und hilflos ans Bett gebunden ist, so wie sie Jahre zuvor. "In dem Moment hat er mir leid getan", sagt sie. Heute hat sie keinen Kontakt zu ihrer Familie, weder zur Mutter, die nicht weit weg in einem Altersheim lebt, noch zu den Geschwistern.

Stattdessen hat Waltraud Storck, neben ihren Büchern, den juristischen Kampf gegen die Ärzte zu ihrem Lebensinhalt gemacht. Jedes Detail ihrer Leidensgeschichte hat sie parat, und sie will es erzählen, es sprudelt geradezu aus ihr heraus. In der Frankfurter Verhandlung sitzt sie voller Anspannung in ihrem Rollstuhl und hebt immer wieder wie in der Schule den Finger.

"Darf ich auch etwas dazu sagen?", unterbricht sie ihren eigenen Anwalt. "Sie dürfen etwas fragen", entgegnet die Vorsitzende Richterin Ingelore König-Ouvrier mit leicht genervtem Unterton. Insgesamt 14 Gerichte haben sich durch die verschiedensten Instanzen mit ihrem Fall beschäftigt. Erfolg hat sie nur einmal gehabt: Im Jahr 2005 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik Deutschland zu 75.000 Euro Schadenersatz verurteilt .

Bis zu 300 Fälle am Tag

Aber die juristische Bewältigung dieses Falles ist nur eine Seite. Es bleibt die Frage, wie es geschehen konnte, dass eine junge Frau jahrelang gegen ihren Willen in der Psychiatrie regelrecht gefangen gehalten wurde, obwohl sie die Krankheit gar nicht hatte, deretwegen sie eingesperrt war?

Der Gutachter Hinderk Emrich liefert dazu in der Erläuterung seines Gutachtens beklemmende Aufschlüsse. "Es war psychiatrisch gesehen eine völlig andere Zeit", sagt er über die Zustände vor 30 Jahren. Man sei mit Diagnosen damals "sehr viel schneller bei der Hand" gewesen, die Patienten seien kaum sorgfältig untersucht worden. "Konfliktträchtige Patienten" seien oft "mit Neuroleptika diszipliniert" worden.

Den krassen Ärztemangel jener Jahre schildert der Gutachter an seinem eigenem Werdegang. Er habe als junger Psychiater in einem Landeskrankenhaus damals bis zu 300 Fälle täglich auf dem Tisch gehabt. "Das kann man sich kaum vorstellen", entfährt es da der Richterin. Und auch die Angehörigen, so der Gutachter, haben damals "sehr stark in die Therapie eingegriffen". So wie der Vater von Waltraud Storck. Erst aufgrund des Berichtes der Psychiatrie-Enquetekommission von 1975 ist in Deutschland eine umfassende Reform der Psychiatrie in Gang gekommen, die dann Zug um Zug umgesetzt wurde. Für Waltraud Storck sind diese Reformen zu spät gekommen.

Aber weil die vielen Fehler im Fall Storck eben juristisch an den damaligen Maßstäben gemessen werden müssen und nicht an den heutigen, ist es für Waltraud Storck fast unmöglich, vor Gericht Gerechtigkeit zu erstreiten. "Das Unrecht ist so offenkundig, und man weiß genau, dass man gegen dieses Unrecht nicht ankommt", sagt ihre ehemalige Lehrerin Hildegard Moos.

Waltraud Storck hat ständig starke Schmerzen, die sie lieber erträgt, als Medikamente zu nehmen. Ihre Lunge verschleimt schnell, deshalb bekommt sie vor allem nachts kaum Luft und muss mit einem Spezialgerät ständig das Sekret absaugen. Wenn das Frankfurter Oberlandesgericht entscheiden würde, dass sie wenigstens etwas Entschädigung erhält, könnte sich Waltraud Storck vielleicht eine kleine Wohnung irgendwo im Süden kaufen, wo das Klima nicht so feucht und kalt ist. Wo sie dann gerne leben würde? "Vielleicht Spanien oder die Kanarischen Inseln". Aber eigentlich weiß sie es nicht. "Ich war ja noch nirgends."

© SZ vom 04.03.2008/gdo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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