Nach dem Amoklauf:"Es hätte ohne Zweifel erkannt werden können"

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Der Kriminalpsychologe Jens Hoffmann hat ein System entwickelt, das Täterprofile ablöst und dabei helfen soll, potentielle Gewalttäter früher zu erkennen.

Jürgen Schmieder

Nach dem Amoklauf im finnischen Kauhajoki: Der Kriminalpsychologe Jens Hoffmann hat mit seinem Team an der Technischen Universität Darmstadt ein System entwickelt, das bisherige Täterprofile ablöst und künftig dabei helfen soll, potentielle Gewalttäter früher zu erkennen. Von Januar 2009 an wird das Dynamische Risiko-Analyse-System an Schulen und bei der Polizei in Deutschland, Österreich und der Schweiz eingesetzt.

Schüler in Kauhajoki trauern um ihre Kollegen. (Foto: Foto: AP)

sueddeutsche.de: Sie bezeichnen die Tat von Kauhajoki als klassischen Amoklauf. Was ist das?

Jens Hoffmann: Es gibt ein klassisches Drehbuch: Dazu gehört die lange Planungsphase, anhaltender Hass und Schuldzuweisungen. Es gibt Vorbereitungsphasen wie das Abfeuern der Waffe und eine Ankündigung der Tat. Es gibt auch die Identifikation mit anderen Gewalttätern. Gerade habe ich erfahren, dass der Amokläufer von Kauhajoki persönlichen Kontakt hatte mit dem Mann, der im vergangenen Jahr in Tuusula acht Menschen tötete.

sueddeutsche.de: Gibt es denn auch den klassischen Amokläufer? Es wird oft ein ähnliches Bild gezeichnet: männlich, isoliert, Fan von Waffen und Computerspielen ...

Hoffmann: Wenn man Unschuldige verdächtigen und Amokläufer durchgehen lassen möchte, dann verwendet man am besten dieses Profil. Es gibt natürlich Auffälligkeiten wie Isolation, aber nicht immer. Der aktuelle Täter hatte etwa eine Freundin, andere sind in Vereinen organisiert. Es gibt kein psychologisches Profil, das uns hilft, solche Leute herauszufischen.

sueddeutsche.de: Anstatt eines Profils wird von Januar 2009 an das Dynamische Risiko-Analyse-System DyRiAS eingeführt. Wie funktioniert das?

Hoffmann: Es werden nur Leute durch das System bewertet, die auffällig geworden sind. Es gibt 31 Punkte, die Verhaltensvariablen abfragen: Gibt es Identifizierung mit anderen Amokläufern? Welche Probleme hat der Auffällige? Hat er eine Waffe herumgezeigt? Wenn Drogen im Spiel sind, welche genau? Anhand dieser Variablen gibt das System eine Risiko-Einschätzung ab, ähnlich einem Wetterbericht. Das System stellt Fragen und die Personen, die damit arbeiten, müssen die Antworten recherchieren. So kann man erkennen, ob es genügend Puzzlesteine für einen potentiellen Amoklauf gibt. Bei den Antworten selbst soll nicht interpretiert und analysiert werden - das übernimmt der Computer.

sueddeutsche.de: Hätte mit Ihrem System der Amoklauf verhindert werden können?

Hoffmann: Es hätte ohne Zweifel erkannt werden können. Das ist ja das Tragische an dem Fall in Finnland: Der Polizeibeamte, der den Täter verhört hatte, hat einfach nicht die richtigen Fragen gestellt, weil er die richtigen Fragen nicht kannte. DyRiAS zwingt sie dazu, die richtigen Fragen zu stellen.

sueddeutsche.de: Man muss Recherche betreiben. Kann das bedeuten, dass Lehrer ihren Schülern hinterherspionieren?

Hoffmann: Nein, das ist Quatsch. Die Lehrer sollen sich nur kümmern, wenn ein Schüler auffällig geworden ist. Dann sollen sie mit Kollegen, mit Eltern und der Polizei sprechen.

sueddeutsche.de: Es wird also keine Lehrer geben, die in Schultaschen wühlen auf der Suche nach einer Pistole?

Hoffmann: Auf keinen Fall. Auf der anderen Seite: Wenn ein Schüler eine Waffe mitbringt und sie herumzeigt, dann muss man sich damit beschäftigen.

sueddeutsche.de: Was muss man tun, wenn das System vorhersagt, dass es sich um einen potentiellen Amokläufer handelt?

Hoffmann: Das Programm sagt ganz klar: Jetzt könnte es brenzlich werden, unternimm was! Das muss dann aber individuell passieren, da gibt es keine einheitliche Strategie. Die Schulen müssen bereits aufgestellt sein und sich mit Polizei und Beratungsstellen vernetzen. Ab einem gewissen Punkt muss man natürlich dafür sorgen, dass man dem entsprechenden Menschen die Waffen abnimmt und ihn von der Straße nimmt.

sueddeutsche.de: Die Zahl der Amokläufer steigt, auch den Medien wird eine gewisse Schuld daran zugeschrieben.

Hoffmann: Den Nachahmer-Effekt kennen wir seit "Die Leiden des jungen Werther" von Goethe. Ein amerikanischer Psychologe forderte schon im Jahr 1911: "Hört auf, über Attentäter in Büchern und Zeitschriften zu berichten!" Durch das Internet haben wir natürlich eine neue Dimension, es macht Gewaltverbrecher unsterblich. Fast alle Amokläufer beziehen sich auf andere Täter. Die gelten als Helden. Sehen Sie sich nur die Videos von Emsdetten auf YouTube an, wie die bewertet werden. Da steht: "Großartig! Endlich bekämpft jemand das System." Natürlich muss man berichten, aber man sollte sich auf die Opfer fokussieren und nicht auf den Täter.

sueddeutsche.de: Durch die Berichterstattung wächst natürlich die Angst vor weiteren Amokläufen.

Hoffmann: Es gibt ein unglaubliches Chaos in Deutschland. Sie müssen nur an eine Toilettenwand schreiben: "Ich bringe jemanden um!" Schon wird die Schule gesperrt. Mit dem neuen System kann man genau sehen, wo etwas dahintersteckt. In den meisten Fällen steckt nichts dahinter. Aber bei den konkreten Fällen muss man reagieren.

sueddeutsche.de: Glauben Sie, dass durch Ihr System die Zahl der Amokläufe wieder sinkt?

Hoffmann: All die Anstrengungen, die seit dem Unglück in Emsdetten unternommen werden, können dazu führen, dass man viele Dinge früher erkennt und dadurch auch verhindert. Das System ist dabei nur ein Baustein. Es ersetzt aber nicht die Aufmerksamkeit der Menschen.

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