Mensch und Arbeit:Berufsverkehr

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Pendeln ist die Geißel der modernen Arbeitswelt. Man vergedeutet Lebenszeit in Staus, stickigen U-Bahnen und jagt dem Glück im Grünen hinterher. Warum man sich das antut, weiß Soziologe Norbert Schneider.

Interview von Hannes Vollmuth

Die Zahl der Pendler in Deutschland hat einen neuen Rekord erreicht. Nach einer Analyse des Bundesinstituts für Bau- Stadt- und Raumforschung (BBSR) pendeln 60 Prozent aller Arbeitnehmer und stehen dabei täglich in Staus, stickigen U-Bahnen, vergeuden ihre Lebenszeit und sind chronisch gestresst. Pendeln ist die Geißel der modernen Arbeitswelt, in der jeder seinem Traumjob als auch der Doppelhaushälfte auf dem Land hinterher zu jagen scheint. Doch der Soziologe Norbert Schneider hat auch Lösungen.

SZ: Herr Schneider, wie lange haben Sie heute in die Arbeit gebraucht?

Norbert Schneider: 25 Minuten. Mit dem Auto. Das ist völlig okay - solange ich in keinen Stau gerate. Früher bin ich in acht Minuten ins Büro geradelt. Aber das war mir zu nah, Arbeit und Privatleben waren nicht richtig getrennt.

Die Zahl der Pendler hat einen neuen Rekord erreicht.

In der BBSR-Analyse ist ein Pendler ein Mensch, der eine Gemeindegrenze überquert. Wer innerhalb von Köln 40 Minuten zur Arbeit fährt, wäre somit kein Pendler. Ich halte deshalb die Pendelzeit für viel entscheidender. Ein Pendler ist für mich jemand, der mindestens 30 Minuten einfach zur Arbeit braucht. Nach dieser Definition galten 1991 noch 20 Prozent der Arbeitnehmer als Pendler, heute 26 Prozent. Das sind zehn Millionen Menschen.

Was macht Pendeln mit uns?

Ab 30 Minuten steigt das gesundheitliche Risiko. Man schläft schlechter, hat Bluthochdruck, der Rücken schmerzt, Kopfschmerzen hämmern, man fühlt Stress.

Aber man sitzt doch nur im Auto oder in der Bahn. Was ist daran so schlimm?

Wir Mobilitätsforscher sprechen von Kontrollverlust: Der Zug hat Verspätung und der Anschlusszug ist schon weg, ich werde zu spät kommen und das Meeting verpassen. Dazu ist es in der S-Bahn noch stickig, heiß, laut, jemand riecht nach Schweiß. Und der Chef droht mit Abmahnung, wenn ich wieder zu spät bin. In einer britischen Studie stand mal: Pendler fühlen sich im Stau wie Kampfpiloten im Einsatz.

Also besser mit dem Auto fahren?

Das Auto empfindet man im Unterschied zur Bahn als Privatraum, ich bin ungestört. Stressmäßig macht es aber keinen Unterschied. Bei Verspätungen fühle ich mich überall ohnmächtig. Entscheidend ist die Pendelzeit. Ab 45 Minuten wird es richtig kritisch für die Gesundheit.

In den USA diskutiert man seit zwei Jahrzehnten, dass Pendeln auch das soziale Leben zerstört. Was ist mit Deutschland?

Norbert Schneider, 61, leitet seit 2009 das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Der Soziologe beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Pendeln. Viele, sagt er, hätten Angst vor dem Umzug. (Foto: BiB)

Auch bei uns entfremdet Pendeln die Menschen von ihren Partnern, Kindern und Freunden. Das soziale Engagement leidet, und somit viele Vereine. Pendler sind durchschnittlich weniger sozial engagiert als Nicht-Pendler.

Der Pendler schafft es nicht zur Chorprobe, weil er im Vorortzug festhängt?

Die Wahrscheinlich dafür ist zumindest höher. Pendler fehlen beim Fußballtraining, weil sie es um 19 Uhr nicht schaffen. Auch politisch aktiv sind sie seltener. Ich erlebe oft, dass Menschen pendeln, um Familie und Arbeit in Einklang zu bringen. Das funktioniert aber häufig nicht. Das Kind ist schon im Bett, wenn man nach Hause kommt. Oder der Partner, der nicht pendelt, will etwas unternehmen, man selbst ist aber müde. Beziehungen von Pendlern scheitern häufiger als die von Nicht-Pendlern. Pendelnde Frauen kriegen auch weniger Kinder, und wenn, dann erst später. Pendeln macht also ziemlich viel mit uns.

Warum pendelt man dann überhaupt?

In vielen Partnerschaften arbeiten inzwischen beide. Ich hatte mal einen Fall, da arbeitete er in Darmstadt und sie in Stuttgart, die Wohnung war in Mannheim. Er fuhr 50 Minuten zur Arbeit, sie 70. Aber was sollen die machen? Die können sich entweder trennen oder pendeln. Oder den Arbeitsplatz wechseln. Bei hoch spezialisierten Berufen ist das aber schwierig.

Pendler sind also nicht selbst schuld?

Natürlich nicht. Der Pendler wird in Deutschland eher bemitleidet, er ist kein Jetset-Held. Menschen pendeln, um ihren Arbeitsplatz zu behalten, den es nur in der Großstadt gibt. Sie pendeln, um die Partnerschaft zu retten. Die Zahl der Wochenendpendler hat sich in den letzten 25 Jahren verdreifacht. Viele Menschen in den teuren Städten wie München werden auch einfach ins Umland verdrängt.

Hat Pendeln auch etwas Positives?

Pendeln hat immer zwei Seiten. Man kann dadurch seinen Arbeitsplatz behalten, man kann dort wohnen bleiben, wo man will, und beide Partner können arbeiten. Mir hat mal einer erzählt, dass er das Pendeln richtig genießt. In der Arbeit wird man bequatscht, zu Hause wird man bequatscht, aber im Zug hat man seine Ruhe.

Pendeln als Zeit für Muße?

In einer unserer Studien hatten wir mal eine Frau, die ist täglich von Celle nach Frankfurt gependelt, drei Stunden einfach. Die hat gesagt, im Zug treffe sie nette Menschen, zu Hause sei sie nur alleine mit ihrem Fernseher. Wenn man sich selbst zum Pendeln entscheidet, empfindet man das viel angenehmer, als wenn die Standortverlagerung einen dazu zwingt.

Aber starrt nicht jeder im Nahverkehr inzwischen auf das Smartphone?

Richtig. Aber vielleicht beantwortet der Mensch gerade entspannt seine Nachrichten oder er liest einen Artikel. Es kommt darauf an, was man daraus macht.

Was schlagen Sie also vor?

Ich empfehle, ab und zu das Verkehrsmittel zu wechseln. Nicht jeden Tag mit der S-Bahn, wenn das einen nervt. Ich sag den Leuten auch, versucht eure Pendelzeit mit Sinn zu füllen. Hört Hörspiele, lest Bücher. Fühlt euch nicht als Opfer, sondern gestalte die Situation. Sagt dem Sportverein, dass ihr es nicht zum Training schafft, am Sonntag aber trotzdem mitspielen wollt. Viel wichtiger ist aber der Arbeitgeber.

Der Arbeitgeber?

Ein flexibler Arbeitsbeginn nimmt Pendlern viel Stress. Statt einer Dienstreise tut's oft auch eine Videokonferenz. Und nur ein Tag in der Woche Homeoffice verbessert die Situation schon enorm.

Was ist mit einem besseren Nahverkehr?

Eine pünktliche S-Bahn entspannt jeden. Aber je besser die Infrastruktur, desto mehr Menschen wollen überhaupt pendeln. Seit die ICE-Linie Berlin-Hamburg eröffnet ist, gibt es dort jede Menge Pendler, die es davor nicht gab. Früher mussten die Leute wirklich umziehen.

© SZ vom 08.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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