Megaprojekt:Volles Rohr

Lesezeit: 3 min

Mit einem beeindruckenden Fest wird der Gotthard-Basistunnel eingeweiht, der längste Eisenbahntunnel der Welt. Und für einen Moment wirkt es so, als ob in Europa Grenzen keine Rolle spielen.

Von Charlotte Theile, Pollegio

Wenn es eine Sache gibt, die jedes Kind weiß, dann wohl diese: Im Tunnel ist es dunkel. Vor einigen Jahren ist noch eine zweite Gewissheit dazugekommen: Im Tunnel hat man keinen Handy-Empfang. Beide Regeln wurden an diesem Mittwoch, als die Schweiz in einem großen Festakt den Gotthard-Basistunnel eröffnet hat, gebrochen. Der Tunnel, durch den am frühen Nachmittag Schweizer Bürger und Politiker sowie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident François Hollande und Italiens Regierungschef Matteo Renzi fuhren, war während der Fahrt hell erleuchtet. Der klinisch saubere Beton im Inneren des Berges konnte sich der Festgesellschaft von seiner besten Seite zeigen. Und der Handy-Empfang? War auch durchgehend perfekt.

Auf der anderen Seite, der Gotthard-Effekt: strahlender Sonnenschein im Tessin, graue Wolkenberge in der Innerschweiz.

Am Festtag ist der frische Tunnel-Beton bestens ausgeleuchtet

Die ersten Passagiere, die den Tunnel durchqueren durften, waren normale Schweizer Bürger. 1000 Tickets waren unter 160 000 Interessenten verlost worden. Begleitet vom Jubel der Festgemeinde kamen die beiden Züge, die gleichzeitig im innerschweizerischen Kanton Uri und in Pollegio, Kanton Tessin, losgefahren waren, aus den beiden je 57 Kilometer langen Röhren hinaus. Der längste Eisenbahntunnel der Welt soll in Zukunft in 20 Minuten durchfahren werden. An diesem Festtag dauert es etwas länger. Eine freundliche Ansagestimme sagte: "Sie sollen die Zeit im Tunnel ja auch genießen können." Also, 30 Minuten gut ausgeleuchteter Beton.

Zur gleichen Zeit stürmten Hunderte Schauspieler in orangefarbener Arbeiterkluft die Festhalle. Ein Theaterstück, das an die Schwerstarbeit erinnern sollte, welche die Bergleute während zwei Jahrzehnten teils Tausende Meter unter dem Berg verrichtet hatten. Schon am Tag zuvor war ein Denkmal errichtet worden, als Erinnerung an die neun Arbeiter, die im Berg ihr Leben verloren.

Johann Schneider-Ammann, der in diesem Jahr Schweizer Bundespräsident ist, steht in einer grauen Halle mit der praktischen Aufschrift "Betonhalle". Er sagt das, was man an diesem Tag von ihm erwartet: Es sei ein "historischer Tag", an der Fertigstellung des "Jahrhundertwerks" hätten mehrere Generationen mitgewirkt. "Es ist ein wichtiger Schritt für die Schweiz, für unsere Nachbarn und den Rest des Kontinents", sagt er - auf Deutsch, Französisch, Englisch.

Die Bedeutung für Europa ist den Schweizer Politikern besonders wichtig: Der Gotthard soll die Verbindungslinie zwischen Nordsee und Mittelmeer, "zwischen Rotterdam und Genua" sein und für einen schnelleren Güterverkehr auf dem ganzen Kontinent sorgen. Auch für Menschen geht es bald deutlich schneller: in weniger als drei Stunden von Zürich nach Mailand. Ein positives Signal in Richtung Brüssel, wo manche Abstimmungsergebnisse aus der Schweiz doch mit, nun ja, Verwunderung wahrgenommen worden waren.

1 / 7
(Foto: Laurent Gillieron/dpa)

Mit Feuerwerk: Nach einer halben Stunde gemütlicher Fahrt rauscht der erste Zug aus dem Nordportal des längsten Tunnels der Welt.

2 / 7
(Foto: Alexandra Wey/dpa)

Erst ein bisschen Bauarbeiter-Ballett,...

3 / 7
(Foto: Ruben Sprich/Reuters)

...dann 1.-Klasse-Fahren mit Matteo Renzi, Johann Schneider-Ammann, Angela Merkel und François Hollande.

4 / 7
(Foto: Arnd Wiegmann/Reuters)

Mit einem famosen Fest wird der 57 Kilometer lange Gotthard-Basistunnel eröffnet. Ein historischer Tag.

5 / 7
(Foto: Christian Beutler/dpa)

Er sorgt bei den glücklichen Premierenpassagieren für große Augen und glühende Smartphones. Der Handy-Empfang ist durchgehend perfekt.

6 / 7
(Foto: Gaetan Bally/AP)

Göttlichen Beistand gibt es ebenfalls.

7 / 7
(Foto: Arnd Wiegmann/Reuters)

Postkutsche war gestern: Für Menschen geht es bald deutlich schneller, in weniger als drei Stunden von Zürich nach Mailand.

Man könne zumindest auf einen "Moment des Goodwill" hoffen, sagte Schneider-Ammann. Diese Bescheidenheit wurde am Nachmittag, nachdem die Festgesellschaften durch den Tunnel gefahren waren und die Staats-und Regierungschefs der Nachbarländer ihre Bewunderung ausgedrückt hatten, von einem Donnergrollen abgelöst. Die Schweizer Luftwaffe ließ strahlend rot-weiße Maschinen über dem Festplatz in Pollegio kreisen. Dazu einige Schlagworte aus dem Mikrofon: "Schweizer Präzision auf höchstem Niveau, meine Damen und Herren", "das ist Swissness" und "das ist er, der längste Tunnel der Welt!"

Es ist nicht der erste Eisenbahntunnel durch den Gotthard: Schon 1882 wurde ein 15 Kilometer langer Schienentunnel eröffnet, er ist heute noch in Betrieb.

Wieso schaffen die Schweizer, was sonst niemandem gelingt?

Zurückhaltende Schweizer? Nicht an diesem Mittwoch, dem Höhepunkt des Jahres des Gotthard. Nicht am Ziel des Countdowns, auf den das ganze Land schon seit Monaten hinfiebert. Reibungslose Organisation, saubere Ingenieursleistung, Weltrekorde am Berg. Der Gotthard-Basistunnel zielt ins Herz des Schweizer Selbstverständnisses. Dass hier alles besser läuft als in den Nachbarländern, wo Großprojekte inzwischen fast automatisch Kostenexplosion, Bürgerproteste und jahrelange Verzögerung nach sich ziehen? Das ist den Schweizern natürlich bewusst.

Die Feier mit den führenden Politikern der Nachbarländer ist daher auch eine kleine Demonstration: Seht mal her, so wird's gemacht. Ganz so möchte das natürlich niemand sagen - lieber beeindruckt man die Gäste mit Beton und Flugzeugen. Dass der Tunnel funktioniert, sehen die Gäste ja, wenn sie mit bis zu 200 Kilometern in der Stunde hindurchrauschen.

Fast zwölf Millionen Schweizer Franken hat die Feier gekostet. Ausstellungen im ganzen Land, Flugshow, Buffet und Hunderte Schauspieler haben ihren Preis. Am Schluss fahren Sonderzüge zurück in die Deutschschweiz. Wieder geht es durch den Tunnel. Diesmal ist alles dunkel.

© SZ vom 02.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: