Medizin im Internet:Außer Kontrolle

Lesezeit: 4 min

Wissenschaftler haben die Qualität medizinischer Informationen im Internet zu Mitteln wie Viagra überprüft - mit niederschmetterndem Ergebnis. Die meisten Seiten sind fehlerhaft oder unvollständig.

Von Nicola Siegmund-Schultze

Normalerweise soll das Medikament Selegilin gegen die Parkinson-Krankheit helfen. Im Internet aber wird es Gesunden empfohlen: Ab dem vierzigsten Lebensjahr eingenommen, könne Selegilin den Alterungsprozess bremsen, das Leben verlängern und die Sexualität anregen.

"Dabei beruht die Vermutung, Selegilin sei bei gesunden Menschen sinnvoll, ausschließlich auf Missverständnissen und Halbwahrheiten", wettert Jan Keppel Hesselink, Professor für Molekulare Pharmakologie an der Universität Witten/Herdecke.

Auf luststeigernde oder lebensverlängernde Wirkung sei das Medikament beim Menschen nie getestet worden, nur bei Ratten. Außerdem könnten Bewegungsstörungen auftreten, wenn Selegilin zusammen mit Antidepressiva oder Arzneien derselben Wirkstoffklasse (so genannten MAO-Hemmern) eingenommen wird.

Bei gleichzeitigem Konsum von Hartkäse oder anderen Thyramin-haltigen Lebensmitteln kann Selegilin zudem Kreislaufprobleme hervorrufen. "Mit solchen unerwünschten Effekten rechnen die wenigsten, wenn ihnen eine Substanz als Lifestyle-Präparat angeboten wird", sagt Hesselink.

Partydroge Viagra

Das ist auch beim Potenzmittel Viagra so. Längst nehmen nicht mehr nur Männer mit krankhaften Potenzstörungen die blauen Rhomben ein. Viagra kursiert auf Partys und in Diskos, obwohl es in Deutschland verschreibungspflichtig ist. Deshalb informieren sich viele Kunden im Internet anonym über Viagra. Doch "Information" kann man oft nicht nennen, was ihnen dort präsentiert wird.

Die Arbeitsgruppe um den klinischen Pharmakologen Walter Haefeli von der Universität Heidelberg hat jetzt die Qualität der medizinischen Information auf Homepages über das Potenzmittel auf Deutsch, Englisch, Französisch oder Italienisch unter die Lupe genommen (1). "Wir haben Viagra gewählt, weil es ernste Gesundheitsschäden auslösen kann, wenn es mit anderen Arzneistoffen eingenommen wird", so die Autoren.

Niederschmetternde Analyse

Ihre Analyse war niederschmetternd: Nur 100 von 303 ausgewerteten Websites informierten gut. Das heißt, sie gaben die Indikation für Viagra (Impotenz und Erektionsprobleme) richtig an, wiesen auf Nebenwirkungen wie Kopfschmerz oder Hitzewallungen hin und auch auf die wichtigsten Gegenanzeigen: zum Beispiel darauf, dass nicht gleichzeitig nitrathaltige Medikamente gegen Herzattacken eingenommen werden sollen.

Andere wichtige Wechselwirkungen mit Arzneimitteln wurden sogar nur auf jeder vierten Homepage erwähnt. Solche Wechselwirkungen gibt es zum Beispiel mit Mitteln gegen Pilze, mit Antibiotika oder Aids-Medikamenten.

Ernüchternd waren für die Heidelberger Forscher ihre Versuche, die Anbieter der Homepages zu Verbesserungen anzuregen. Obwohl sie zweimal schriftlich auf Mängel hinwiesen und konkrete Verbesserungsvorschläge machten, hatte sich auch Monate nach dem letzten Brief "nichts Wesentliches geändert".

Ähnlich düster wie auf den Viagra-Homepages geht es auch auf Websites zu, die weniger anrüchige Medikamente zum Thema haben - zum Beispiel das nicht verschreibungspflichtige Johanniskraut, das leichte bis mittelschwere Depressionen bekämpfen kann. Kometenhaft ist der Verkauf des Kräuterextrakts in Deutschland seit den 90er-Jahren angestiegen.

Laut einer deutschsprachigen Homepage soll es auch Magenbeschwerden lindern und als Öl bei Verletzungen, Muskelschmerzen und Verbrennungen helfen. "Es ist aber nur die Indikation ,depressive Verstimmung" korrekt", stellt Meret Martin-Facklam richtig.

Staatliche Seiten nicht besser

Sie hat vor zwei Jahren zusammen mit Kollegen aus Haefelis Arbeitsgruppe 208 Websites zu Johanniskraut analysiert (2). Nur auf jeder fünften stimmte die Indikation. Ebenso wenige Seiten wiesen auf Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln hin - mit der Anti-Baby-Pille etwa, mit Medikamenten, die die Abstoßungen fremder Organe verhindern, oder mit Aids-Mitteln. Johanniskraut kann deren Konzentration im Blut senken und so ihre Wirkung mindern.

Auf über hunderttausend wird die Zahl der Internetseiten zum Thema Gesundheit mittlerweile geschätzt. Dabei geht es nicht nur um einzelne Medikamente. Auch zu Krankheiten gibt es jede Menge Material im World Wide Web. Der große Vorteil für die Nutzer: Sie bleiben anonym. Das ist oft wichtig für Menschen, die eine Stigmatisierung fürchten, zum Beispiel bei seelischen Krankheiten oder einer HIV-Infektion.

Nicht durchweg schlechter als herkömmliche Medien

Informationen aus dem Internet seien nicht durchweg schlechter als die herkömmlicher Medien, betont Gunther Eysenbach, der an den Universitäten Toronto und Heidelberg das Verhalten von Internet-Nutzern und die Qualität der Websites untersucht. Dennoch sollten Internet-Nutzer kritisch mit dem neuen Medium umgehen, Informationen vergleichen und deren Aktualität sowie die Urheber prüfen (siehe Weitere Themen).

Dabei können sie sich nicht einmal auf die Internetseiten staatlich geförderter Institutionen verlassen. In der aktuellen Ausgabe des British Medical Journal kritisieren Ärzte vom Nordic Cochrane Centre in Kopenhagen, dass staatliche Institutionen über die Vor- und Nachteile des Mammographie-Screenings falsch informieren (3).

Die Brustkrebs-Suche werde mit Hilfe irreführender oder falscher Zahlenangaben zu positiv dargestellt. Darüber hinaus würden die wichtigsten Nachteile des Screenings unter den Teppich gekehrt - dass es nämlich mitunter zu einer Krebs-Diagnose samt anschließender Behandlung kommt, die eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre.

Zunehmend fordern Fachleute daher eine Qualitätskontrolle medizinischer Internetseiten und ein Gütesiegel, das dem Nutzer die Einschätzung erleichtert. In Deutschland ist die Frage der Qualität von Arzneimittel-Websites noch drängender geworden, seit der Vertrieb verschreibungspflichtiger Medikamente über das Internet erlaubt ist. Denn Web-Apotheken können ihre Homepages mit Seiten verlinken, die Produktinformationen enthalten, und umgekehrt.

Für Internet-Apotheken gelte bereits das deutsche Apothekengesetz, betont Gert Schorn, der im Bundesgesundheitsministerium das für den Medikamenten-Versandhandel zuständige Referat leitet. Auch ausländische Web-Apotheken müssen sich daran halten, wenn sie deutsche Kunden beliefern. Demnach ist es verboten, bei Arzneien Anwendungen anzugeben, für die es keine medizinisch-wissenschaftliche Grundlage gibt. Auch über unerwünschte Wirkungen müssen Internet-Apotheken korrekt informieren.

Die Verknüpfungen mit anderen Seiten jedoch sind noch nicht reguliert. "Derzeit gibt es für solche Links nur Vorschläge für Qualitätsstandards", sagt Schorn. "Sie berücksichtigen sowohl die Empfehlungen der EU als auch Regelungen aus den USA." Das Gesundheitsministerium plant für die Zukunft eine Kontrolle der Verknüpfungen. Für den Verbraucher solle dann auch erkennbar sein, ob eine Website deutschen Sicherheitsstandards entspricht.

Zwar gibt es bereits freiwillige Qualitätskontrollen von Medizin-Websites, die Gütesiegel wie HON (Health on the Net Foundation) tragen. In der Viagra-Studie schnitten die Seiten mit dem HON-Siegel bezüglich der Inhalte nicht besser ab, so die Heidelberger Forscher. Von höherer Qualität waren hingegen Websites, die Quellenangaben machen. Zumindest die meisten von ihnen.

(1)British Journal of Clinical Pharmacology, Bd.57, S.60, 2004 (2)American Journal of Medicine, Bd.113, S.740, 2002 (3)BMJ, Bd.328, S.148, 2004

© SZ vom 21.1.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: