Landshut:Selbstjustiz auf dem Flur

Lesezeit: 5 min

Tödlicher Erbschaftsstreit: Ein 60-Jähriger erschießt seine Schwägerin und richtet sich selbst. Ein Anwalt wird im Landshuter Landgericht schwer verletzt.

Ph. Crone, D. Esslinger und D. Mittler

Eine Stunde dauert das Verfahren im Sitzungssaal 8 an diesem Dienstagmorgen, sieben Geschwister streiten seit den neunziger Jahren um ein Erbe, eine hässliche Auseinandersetzung, aus Sicht des Richters aber doch alltäglich. Jedenfalls findet er nicht, dass das Klima außergewöhnlich stark gespannt ist, er strebt einen Vergleich an.

Polizisten haben das Landgericht umstellt. (Foto: Foto: AP)

Um Viertel nach zehn gibt es eine Pause, die Beteiligten gehen raus auf den Flur, der Richter bleibt im Saal, er will schnell ein Urteil in einem anderen Fall verkünden. Auf einmal knallen Schüsse - und dann kehrt Franz-Josef N., 60 Jahre, von Beruf Koch, Beklagter in dem Erb-Verfahren, zurück in den Saal. Er schießt sich eine Kugel in den Kopf, vor den Augen des Richters und eines Rechtsanwalts. Auf dem Flur liegt seine 48-jährige Schwägerin Brigitte G. aus Straubing, daneben ihr Anwalt. Eine zweite Schwägerin ist verwundet.

Um 10.17 Uhr gehen bei der Rettungsleitstelle die ersten Notrufe ein. Die Anrufer geben an, sie hätten 20Schüsse gehört. In der Erinnerung haben solche Taten oft ganz andere Dimensionen als in der ohnehin schon schrecklichen Realität. Kurz darauf erhält Rudolf Filser, Einsatzleiter beim BRK in Landshut, seinen Einsatzbefehl: "Schießerei im Landgericht, unter Umständen 20 Verletzte."

Die Landshuter Polizeidirektion befindet sich nur ein paar hundert Meter entfernt, die Polizisten sind binnen Minuten im Gericht, zwei Teams stürmen in das Gebäude, insgesamt rasen mehrere hundert Beamte in die Maximilianstraße 22, aber ihre Waffen werden sie alle nicht mehr benötigen. Am Ende des Treppenaufgangs im ersten Stock stoßen sie auf einen schwerverletzten Mann. Die Notärzte stellen einen Lungensteckschuss bei ihm fest, es ist der Rechtsanwalt.

Direkt neben ihm liegt Brigitte G., die stark aus dem Kopf blutet. "Da wir noch Lebenszeichen bei ihr entdeckten, haben wir versucht, sie zu reanimieren", sagt Filser. "Aber angesichts der massiven Blutverluste war von vornherein klar, dass sie das nicht überleben würde." Es stellt sich später heraus, dass Franz-Josef N. sechsmal geschossen hat, und noch nachgeladen hat. Eine Patrone wird später auf dem Boden gefunden.

Flucht ins Richterzimmer

Das Gerichtsgebäude liegt am Rand der Innenstadt, in zwei Backsteinbauten aus dem Jahr 1968 sind das Amts- und das Landgericht untergebracht: ein sechsstöckiger Verwaltungsbau, inklusive Erdgeschoss, und ein dreistöckiger Bau, in dem sich die Sitzungssäle befinden; durch einen Glasgang im Erdgeschoss sind die beiden Gebäude miteinander verbunden.

Wer sich an diesem Vormittag in dem Verwaltungsbau aufhält, bekommt von dem Verbrechen nichts mit, wer jedoch in dem Saalbau zu tun hat, der hat den Eindruck, geschossen werde gleich nebenan. So erzählt es Reinhard Kriesel, der beim Finanzamt Landshut die Strafsachenstelle leitet und an diesem Vormittag bei einer Verhandlung im Erdgeschoss ist, also eine Etage unterhalb des Ortes, an dem Franz-Josef N. seine Tat begeht. Im Erdgeschoss, bei einem Steuerprozess, war gerade die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden, 20 Zuhörer mussten raus auf den Gang, das kommt vor, keiner macht sich deshalb Gedanken, nur dass sich diese auf den Flur Verwiesenen dort so laut unterhalten, dass es stört.

Ein Rechtsanwalt öffnet die Tür, bittet um Ruhe, und als er gerade wieder im Saal ist, hören die Prozessbeteiligten die Schüsse. Einige werfen sich zunächst unter die Tische, aber dann weist der Richter auf sein Beratungszimmer, und fast alle stürmen dort hinein, Kriesel, der Richter, der Staatsanwalt, zwei Schöffen, zwei Anwälte, eine Fahnderin zur Ausbildung. Der Angeklagte, kein Häftling, springt aus dem Fenster, am Boden angekommen, fängt er noch die Chefin der Steuerfahndung auf, die Frau, die ihn hierhergebracht hat, auf die Anklagebank.

Im Richterzimmer schieben sie einen Stuhl unter die Türklinke, rücken einen Tisch vor die andere Tür, "wie in einem schlechten Film", sagt Kriesel, und weil die Handys alle aus sind, ruft der Richter vom Diensttelefon die Polizei an. Angst? Panik? Wie erlebt man es, Ohrenzeuge eines mutmaßlichen Amoklaufs zu sein, wenige Wochen nach dem von Winnenden zumal?

Reinhard Kriesel sagt, sie hätten darauf geachtet, dass keiner so zur Tür steht, dass er sich im Schusswinkel aufhält. Und sie dachten an die 20 Zuhörer, die sie eben erst auf den Flur verwiesen hatten. In welcher Gefahr die nun womöglich schweben. Und dass deren Anwesenheit auf dem Flur ihnen nun vielleicht auch das Leben rettet. "Da sind so viele Menschen draußen, da wird der Amokläufer doch wohl nicht die Tür aufbrechen, um mich zu erschießen", so fuhr es Reinhard Kriesel durch den Kopf, so erinnert er sich.

Fünf Menschen in dem Gericht stehen unter einem so schweren Schock, dass sie ärztlich betreut werden müssen - darunter auch die völlig traumatisierte Ehefrau des Täters. Warum hat ihr Mann das getan? Um 100.000 Euro, genauer gesagt um 200.000 Mark, ging es in dem Rechtsstreit, in D-Mark wurde er geführt, weil es eben noch eine Auseinandersetzung aus den Neunzigern war. Verwandte des Täters präsentieren ein Schriftstück, das alle Züge eines Abschiedsbriefes hat.

"Heute ist wohl mein letzter Morgen", steht darin. Der Schreiber erklärt, dass er seine Verwandten für einen "jahrzehntelangen Terror" bestrafen wolle, und dass er auch sehr klare Vorstellungen über das Ende seiner Tat hat: "Ich zahle dafür den höchsten Preis: mit meinem Leben." Seit 1974 hatte Franz-Josef N. eine Waffenbesitzkarte, drei Waffen besaß er legal, eine Langwaffe, eine Sportwaffe und eben den Smith & Wesson-Revolver, Kaliber 357 Magnum, mit der er an diesem Dienstag das Gericht betreten hatte. In einem Waffenschrank zu Hause bewahrte er sie auf, nie war er wegen seines Waffenbesitzes oder sonstwie auffällig geworden.

Ein offenes Gebäude

Den Revolver an diesem Tag ins Gericht mitzubringen, war nicht schwierig. Eine Sicherheitsschleuse gibt es hier in Landshut nicht. "Und es gab nicht die geringsten Hinweise darauf, dass bei diesem Prozess Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden müssten", sagt Landgerichtspräsident Karl Wörle, ein Gericht solle ein offener Ort sein, zumal bei Zivilprozessen müsse es doch möglich sein, ungehinderten Zugang zu gewähren.

Hier finden in der Regel keine spektakulären Prozesse statt, also war man immer der Meinung, ohne Kontrollschleusen auskommen zu können. Nun ist man um eine schreckliche Erfahrung reicher, nun sagt Generalstaatsanwalt Christoph Stötz, er habe an Justizministerin Beate Merk (CSU) bereits eine Forderung gestellt: und zwar auf den "verstärkten Einsatz von Schleusen in Gerichtsgebäuden". Neben ihm sitzt bei der Pressekonferenz Siegfried Schneider (CSU), der Chef der Staatskanzlei. Es ist nicht der Tag der Entscheidungen. Schneider sagt nur, "die Sicherheitssituation wird geprüft". Merk hingegen erklärt in München, sie schließe sich der Forderung an.

Es ist der Tag der Trauer, des Versuchs, Worte zu finden, wo es mal wieder keine Erklärungen gibt. Oberbürgermeister Hans Rampf (CSU) kehrt aus München zurück, wo er einen Termin im Gesundheitsministerium abbrach. Er sagt: "Ich hatte schlimmste Befürchtungen." Direkt neben dem Gerichtsgebäude liegt ein Jugendzentrum, einmal über die Straße, und man ist an einem Kindergarten.

Im Rathaus gehen unzählige E-Mails und Anrufe ein. "Es herrscht eine starke Bedrücktheit", sagt Rampf. Und der Ministerpräsident, an diesem Tag in Berlin, spricht nur von einer "unbegreifbaren Tat". Aber Horst Seehofer macht sich dann doch Gedanken über Konsequenzen. Zu der Forderung nach Kontrollschleusen sagt er nichts, er geht auf den Umstand ein, dass wieder einmal ein Privatmann mit seinen privat gelagerten Waffen ein Blutbad angerichtet hat. Seehofer sagt: "Mir erscheint nach allen Informationen, die wir in den letzten Wochen gesammelt haben, die Kontrolle des Waffenrechts als ein Schwachpunkt."

Er scheint den Ermittlern aus der Seele zu sprechen. All ihr Unbehagen, all ihre Zweifel am Waffenrecht fasst einer von ihnen bei der Pressekonferenz in eine Bemerkung. Er spricht von dem "Bedarf an Waffen, den der Einzelne für sich in Anspruch nimmt". 35 Jahre lang wurde im Fall des Franz-Josef N. dieser Anspruch toleriert. Und nun sind zwei Menschen tot.

© SZ vom 8.4.2009/vw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: