Küsse und Politiker:Bussi-Bussi mit Geschichte

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Mal Freundschaft, mal Macht: Der Kuss in der Politik hat eine lange Tradition. Das Lippenbekenntnis zwischen Kanzlerin Merkel und DFB-Präsidenten Zwanziger ist da nur das jüngste Kapitel.

Martin Zips

Dem großen Dichter Enzensberger wird der Satz zugeordnet: "Der Eintritt in die Politik ist der Abschied vom Leben, der Kuss des Todes." Die große Realpolitikerin Angela Merkel und der etwa gleichgroße Fußballpolitiker Theo Zwanziger haben diesen Satz widerlegt. Ihre küssende Umarmung im Wiener Ernst-Happel-Stadion am Schluss der EM-Partie Deutschland gegen Österreich ließ sich an Lebendigkeit und Lebensfreude nicht übertreffen.

"Der sozialistische Bruderkuss", schrieb der ehemalige DDR-Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski einmal, "ist im Allgemeinen nie der Kuss gewesen, der zwei liebende Menschen verbindet." Mag sein.

Die Begegnung Merkel-Zwanziger indes, unweit des auf die Tribüne verbannten Trainers Löw, war anders. In ihrer Herzlichkeit reichte sie an den Bruderkuss zwischen Papst Benedikt XVI. mit Bartholomäus I., Patriarch der griechisch-orthodoxen Kirche, heran. Auch war der Kuss Merkel-Zwanziger ungemein ehrlicher als etwa der Handkuss, den Österreichs Trainer Hickersberger der deutschen Reporterin Lierhaus kurz darauf aufzwang - bevor er sich von ihr abwandte und in eine Fernsehkamera grinste.

Auf 200 verschiedene Kussarten schätzt die Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld den derzeitigen Variantenreichtum. Vom Luftkuss bis zum Nasenkuss. Nicht immer ist ein Kuss Ausdruck seelischer Hingabe oder Zeichen von ehrlicher Liebe, Freundschaft und Verehrung - wie etwa bei gemeinsamen Auftritten des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch samt Gattin.

Manchmal kann ein Kuss, gerade in der Politik, auch eine ziemliche Frechheit sein. Zum Beispiel, wenn er - wahrscheinlich nur für die Fotografen - vom amerikanischen Präsidenten einer Passantin unverlangt aufgedrängt wird. Oder wenn er zur öffentlichen "Schnäbelei" verkommt: So bezeichnete Guido Westerwelle einst die Poolbilder des SPD-Ministers Scharping mit Gräfin Pilati. Auch durch die inflationäre Verwendung dieser schönen Geste - etwa in Form eines sogenannten Wangenkusses unter Hedgefondsmanagern, Boxenludern und Politikerinnen wie Claudia Roth droht Missbrauch! Zudem kann ein Kuss - besonders in seiner Form als Handkuss eher chiracscher Prägung - von Feministen als Verhohnepipelung missverstanden werden.

Bei Angela Merkel freilich muss davon ausgegangen werden, dass sie bei der Umarmung des DFB-Präsidenten allein diesen schönen Satz der Schauspielerin Ingrid Bergman beherzte: "Ein Kuss ist ein reizender Trick der Natur, den Redefluss zu beenden."

© SZ vom 18.06.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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