Kommentar:Flucht ins Komplott

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Im Fall Dutroux glauben die meisten Belgier nicht an eine Einzeltäter-Theorie. Ihr Vertrauen in Justiz, Polizei und Politik ist nach der Aufdeckung zahlreicher Pannen bei den Ermittlungen auf Null geschmolzen. Nun suchen sie in einer Verschwörung eine Erklärung für das Unfassbare.

Von Cornelia Bolesch

Im Gericht von Arlon lauern die Journalisten voller Spannung darauf, ob sich hinter den grausamen Taten des Marc Dutroux allmählich die Konturen eines geheimen "Netzwerks" abbilden, das die belgische Gesellschaft durchzieht und sich aus Pornografie und Menschenhandel speist.

Es ist das kriminelle Milieu der schmutzigen Industriestadt Charleroi, ein undurchdringliches Netzwerk, das als Schauplatz dient. Hier war der arbeitslose und vorbestrafte Dutroux in Autodiebstähle, Betrügereien und Drogengeschäfte verstrickt. Er war Teil des asozialen Untergrunds, so wie er in jeder größeren Stadt vorhanden ist.

Einzeltäter oder Pädophilen-Netzwerk?

Julie, Melissa, An, Eefje, Sabine und Laetitia sind von Dutroux entführt und in seinem Haus eingesperrt worden. So viel steht fest, doch es bleiben Fragen. Sollten die Opfer der Unterwelt von Charleroi Geld einbringen? Sollten sie bestimmten Kunden zugeführt werden?

Oder handelt es sich um Taten, die ein abartig veranlagter Mann mit Unterstützung seiner Exfrau und zweier Komplizen begangen hat: Marc Dutroux, der sich selbst als ewiges Opfer sieht, der seine Mutter hasst und der sexuelle Macht ausüben wollte über andere (weibliche) Wesen?

Die meisten Belgier glauben nicht an diese Einzeltäter-Theorie. Ihr Vertrauen in Justiz, Polizei und Politik ist nach der Aufdeckung zahlreicher Pannen im Fall Dutroux auf Null geschmolzen. Für einen großen Teil der Öffentlichkeit ist bereits klar: Dutroux kann nur Teil einer größeren Verschwörung gewesen sein. Der Hauptangeklagte selbst hat sich bemüht, diese Erwartung des Publikums gleich bei seinem ersten Auftritt vor Gericht zu erfüllen.

Märchengebäude voller nebulöser Verdächtigungen

Auch Marc Dutroux spricht jetzt von einem "Netz" und beschuldigt den mitangeklagten Brüsseler Finanzbetrüger und Gesellschaftslöwen Michel Nihoul, er sei der Auftraggeber der Entführungen gewesen.

Doch was eine Schlüsselaussage hätte sein können, entpuppte sich als Märchengebäude voller nebulöser Verdächtigungen und hanebüchener Konstruktionen. Dutroux stilisierte sich zum "Beschützer" der Mädchen. Für die Familien der Opfer ist das eine arge Zumutung.

Wenn Marc Dutroux lügt, heißt das nicht, dass eine Figur wie Michel Nihoul in jeder Beziehung ein Unschuldslamm ist. Der Brüsseler Betrüger hat mit ungedeckten Schecks und falschen Papieren gehandelt, er hat Sexparties organisiert und daran teilgenommen, er hat gelogen und Drogengeschäfte gemacht.

Und er hat mit Dutroux über Prostituierte aus Osteuropa gesprochen, die man in belgische Bars und Clubs einschleusen könne. Das alles ist filzig genug. Doch es hat noch nichts mit der Entführung und grausamen Ermordung von Minderjährigen zu tun. "Ich kann Kindern kein Leid antun", sagt Nihoul. Ob er lügt, wird der Prozess zeigen.

Große Verantwortung für die Geschworenen

Eine große Verantwortung lastet auf den zwölf Geschworenen im kleinen Gerichtssaal von Arlon. Sie müssen mit der gebotenen Trennschärfe Taten beurteilen, über die das Volk, aus dem sie kommen, schon längst das Urteil gesprochen hat.

Dabei fühlen sich die Belgier in ihrem Glauben an ein großes Netzwerk durch eine Reihe ungeklärter Todesfälle bestärkt.

Im Juli 1999 beging der damalige Lütticher Chefankläger gegen Dutroux, Hubert Massa, Selbstmord. Weil er auf einen verborgenen Skandal gestoßen war? Oder nicht doch, weil ihn existenzielle berufliche Probleme belasteten? Auch andere dieser mysteriösen Tode haben nur auf den ersten Blick zwingend etwas mit dem Fall des Mädchenquälers aus Charleroi zu tun.

Manchmal kann es einem so vorkommen, als wäre es für viele Belgier eine Entlastung, wenn sich herausstellte, dass doch mächtige Hintermänner die Regie beim schrecklichen Schicksal der sechs Mädchen geführt hätten.

Als sei das leichter zu ertragen als die Bestätigung, dass außer einem Psychopathen nur ein "Netzwerk" die Mitverantwortung trägt: Elternhaus, Nachbarschaft, Schule, Gefängnis, Polizei und Justiz.

© SZ vom 5.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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