Kinder im Knast:Gitterbettchen

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In vielen Haftanstalten leben Kleinkinder mit ihren Müttern. So müssen sie nicht ins Heim. Die Attraktion der Krabbelgruppe in Münchens Frauengefängnis sind die Blaulichttransporte für Beate Zschäpe.

Von Ulrike Heidenreich

Wenn bei Frau Hofmann das Personen-Notsignal losgeht, kichern die Kinder in Leons Spielgruppe. Es piepst immer dann, wenn die Erzieherin zu lange in waagrechter Lage verweilt. 30 Sekunden hat sie Zeit, den Alarm an ihrem Gürtel zu neutralisieren - wenn nicht, kommen die Wärter aus der Zentrale. Sie sind bewaffnet, denn sie gehen davon aus, dass Claudia Hofmann von einer Gefangenen angegriffen und zu Boden gerungen wurde. Dabei hat sie sich doch gerade nur etwas zu weit nach hinten gelehnt, das Gerät reagiert sensibel. Was Leon und seine Krabbelfreunde außerdem spannend finden: die Hochsicherheitstransporte von Beate Zschäpe zum NSU-Prozess. Von den Fenstern ihrer Krippe haben sie einen prima Blick auf die Fahrzeugkolonne im Hof mit Blaulicht und martialisch uniformierten Beamten. Die Erzieherinnen stellen dann bunte Klötze unter die Gitter, damit die Kleinen besser sehen. Denn Autos kennen sie hier nicht. Elf Kinder leben zurzeit im Frauengefängnis Stadelheim in München - in einer abgeschlossenen Welt.

Das Wort Gitterbett bekommt hier eine neue Bedeutung. Manche Babys kommen schon kurz nach der Geburt mit ihrer Mutter in die Zwei-Zimmer-Zelle, bleiben ein, zwei Jahre dort - je nach Strafmaß der Frauen. Die ältesten Kinder sind dreieinhalb. Bis zu dieser Altersgrenze, da sind sich die meisten Psychologen einig, ertragen Kinder den Aufenthalt hinter Gittern ohne größere innere Konflikte. "Später würde es schwierig. Kinder erkennen dann die Machtlosigkeit und leiden unter der Fremdbestimmung ihrer Mütter. Auch fühlen sie sich in ihrem Aktionsradius eingeschränkt", sagt Sozialpädagogin Andrea Senoner, die die Mutter-Kind-Einheit leitet.

Seit genau fünf Jahren besteht diese abgeschirmte, mit kanariengelben und warmorangefarbenen Tönen getünchte Abteilung im nüchternen Neubau des Frauengefängnisses im Süden Münchens, gleich neben der Männer-JVA. In einem Gebäude mit 150 klein- bis schwerstkriminellen Frauen sowie der momentan bekanntesten Inhaftierten, der NSU-Angeklagten Zschäpe, ist im dritten Stock Platz für zehn Mütter und maximal 14 Kinder. Es ist eine Art Vorzeigestation im Frauenstrafvollzug. Oben auf dem Dach gibt es einen Spielplatz mit Sandkasten, Spielgerüst, roten Bobbycars, kleiner Rasenfläche. Scheint die Sonne, treffen sich alle draußen; die Mütter sitzen auf Bänken an der Seite, unterhalten sich, rauchen - alles wirkt wie auf jedem anderen Spielplatz der Stadt. Nur dass diese Frauen Betrügerinnen sind, Diebinnen, Schlägerinnen, Drogensüchtige und Dealerinnen. Über ihren Köpfen ist ein starkes, feinmaschiges Sicherheitsnetz gezogen. Laserscanner, Kameras, Scheinwerfer schauen herunter. Leon und seine Freunde schaufeln ungerührt Sand unter dem stahlbewehrten Himmel, für sie sehen Spielplätze halt so aus. Nur die kleine Lara hat sich neulich beschwert, dass die Fenster im Haus alle so hässliche Gitter haben.

"Mein Sohn denkt, wir sind im Urlaub. Er fühlt sich hier sehr wohl", sagt Lena Müller, die Mutter von Leon. Die 26-jährige blonde Frau und ihr Sohn leben seit knapp zwei Monaten gemeinsam in einer Doppelzelle. In Wirklichkeit heißen sie anders, denn wenn die Mutter im kommenden Januar ihre Haftstrafe abgesessen hat und sie einen Neustart ins Leben, in die Freiheit versuchen, wollen sie das unerkannt tun. Ins Gefängnis zu kommen und eingesperrt zu werden, ist eine Schmach - eine der schlimmsten, die ein Mensch erleiden kann. Tut man das mit einem Kind, schämt man sich noch mehr.

Schämen. Warum sie im Gefängnis sind, sagen die wenigsten Frauen offen. In der Mutter-Kind-Abteilung von Stadelheim jedenfalls erzählt jede Zweite, sie sitze wegen Schwarzfahrens ein. Das ist tauglich für Kinderohren, hört sich harmlos an und ist nur die halbe Wahrheit. Vielleicht sind sie tatsächlich ohne Ticket im Bus erwischt worden, doch das war dann ein Verstoß gegen Bewährungsauflagen wegen anderer, härterer Delikte. Mal eine Jugendstrafe, weil sie ihre Aggressionen nicht im Griff und andere verprügelt haben, mal eine Verurteilung wegen wiederholten Diebstahls von Klamotten im Kaufhaus. Die ganz schweren Kaliber, etwa Mörderinnen, dürfen nicht mit Nachwuchs in Haft. Ihr Strafmaß wäre so hoch, dass die Kinder das Gefängnis vor ihnen verlassen würden. Das wollen alle vermeiden.

Drogen, prügelnde Väter: Draußen sind die Bedingungen für die Kleinen oft schlimmer

Es ist ein verstörendes Bild, Kleinkinder in bunten Bodys über die langen Flure an dreifach gesicherten Stahltüren vorbeiflitzen zu sehen. "Kinder und Gefängnis - das passt auf den ersten Blick nicht zusammen", sagt auch Michael Stumpf. Er ist Leiter der JVA Stadelheim, Bayerns größtem und Deutschlands zweitgrößtem Gefängnis. Er ist ein nachdenklicher Mann, verantwortlich für 1000 Mitarbeiter, 1400 Gefangene - und elf Kleinkinder. "Bei allen Vor- und Nachteilen haben sie die Chance, die Zeit mit ihren Müttern gemeinsam zu überstehen, ohne Übergriffe ihrer Väter, ohne Alkohol und Drogen um sich herum. Draußen sind die Bedingungen für sie oft schlimmer", sagt Stumpf.

Immer geht eine komplizierte Abwägung mit Staatsanwälten, Jugendamt, Haftleitung und Sozialpädagogen voraus. Oft wären die Folgen einer Trennung von der Mutter härter als das Leben im Gefängnis, meint der JVA-Chef. Wenn verurteilte Frauen weder Partner noch Verwandte haben, denen sie ihr Kind unter drei Jahren anvertrauen können, bleibt nur der Weg in eine Pflegefamilie, ein Heim - oder eben die Mutter-Kind-Abteilung. Davon gibt es nicht viele in Deutschland, in manchen Bundesländern keine einzige.

Das liegt zum einen daran, dass viel weniger Gefängnisse für Frauen existieren - denn diese werden seltener als Männer kriminell. Das Statistische Bundesamt hat im März 2013 insgesamt 56 562 Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in Deutschland gezählt. Davon waren 53 378 männlich und nur 3184 weiblich, das sind nicht einmal sechs Prozent. Zum anderen ist es Entscheidungssache der Länder, ob sie diese Gitterbettchen überhaupt genehmigen - in Abwägung des Kindeswohls. In Niedersachsen, Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Hessen geht das. In Nordrhein-Westfalen jedoch verlassen Schwangere das Gefängnis für die Geburt und müssen nach ein paar Tagen ohne Baby zurückkehren. Weil es in der Münchner JVA keine Krankenstation für Frauen gibt, kommen Schwangere in andere Anstalten, erst nach der Geburt können Frauen sich um einen Platz in dieser Station bewerben. Hier schaut dann eine Hebamme vorbei, regelmäßig auch der Kinderarzt.

Gegner der Unterbringung von Kindern im Knast erzählen oft den Fall jenes kleinen Jungen, der während der Haftzeit zur Welt kam und drei Jahre im Gefängnis lebte. Später in der Freiheit blieb er immer noch vor jeder Tür stehen, weil er nicht begriff, dass er sie alleine öffnen könnte. Und wartete auf die Frau mit dem großen Schlüssel. "Das wäre ja ganz schrecklich", sagt Claudia Hofmann, die Erzieherin mit dem lustigen Notsignal am Gürtel. Jeden Morgen von 7:50 bis 11 Uhr öffnen sie und eine Kinderpflegerin die Krippe mit Blick auf den Gefängnishof. Und gehen gezielt fast täglich mit den Kindern hinaus, um ihnen die freie, weite Welt zu zeigen.

Manchmal schrecken die Kinder zurück, wenn sie zum ersten Mal einen Mann sehen

Die Mütter bleiben zurück, wenn der bunte Bollerwagen sechs bis acht Sicherheitsschleusen im Gefängnis passiert. "Das Wichtigste für diese Kinder sind Alltagssituationen, keine besonderen Unternehmungen. Busfahren, Einkaufen oder einfach nur Autos anschauen", sagt Claudia Hofmann. Wenn die kleine Gruppe so unterwegs ist, könnte sie aus jedweder Kita kommen. Der Unterschied jedoch ist, dass diese Kinder manchmal zurückschrecken, wenn sie einen Mann sehen. Und dass sie weinen, wenn sie einen lauten Laubbläser hören. "Beides kennen sie von hier drinnen nicht", sagt die Erzieherin. Auch die Wärter sind Frauen.

Die Mutter-Kind-Abteilungen in deutschen Gefängnissen könnte man auch als eine Art Reparaturbetrieb der Gesellschaft bezeichnen. An einer Stelle, wo so richtig viel kaputt ist. Viele Mütter kommen aus desolaten Familien, haben keine Bindung zu ihrem Kind, wissen nicht, wie man es ernährt, wie man es tröstet. "Sie finden bei uns einen Schutzraum, abseits von Männern, Spielcasinos, Drogen. Sie haben die Chance, eine Basis für ihr späteres Leben aufzubauen, und lernen, wie ein strukturierter Tag aussehen könnte", sagt Andrea Senoner. Sogar Teilzeitstellen haben sie für die Mütter ausgehandelt, unten in der Nähstation, wo auch die anderen inhaftierten Frauen arbeiten. Gerade werden dort Ponchos verpackt. In der Mutter-Kind-Station dürfen sie eigene Sachen tragen; auf der Arbeit aber ziehen sich die Frauen Gefängniskleidung an. Die Kinder hören so lange Geschichten in der Knast-Krippe.

Zäh arbeiten Andrea Senoner und ihre Mitarbeiterinnen daran, dass die Kinder Kontakt zur Familie draußen behalten, dass die Oma oder der Papa sie mal für ein paar Tage abholen. Sofie, die Tochter von Selina Lechner (Name ebenfalls geändert), ist gerade für vier Tage bei ihrer Tante zu Besuch. Die 25-jährige Inhaftierte aus Nürnberg hat noch eine Tochter, sie ist fünf und lebt beim Vater. "Ich möchte nicht, dass sie mich hier besucht und mich so sieht", sagt Lechner. Auch sie sagt, sie sei beim Schwarzfahren erwischt worden. "Ich war sehr erleichtert, dass ich wenigstens mit meiner Zweijährigen zusammen sein kann. Sobald die Zellentür zufällt, weiß sie, dass wir zu Hause sind", sagt Lechner. Wenn Sofie zurückgebracht wird, untersuchen die Pädagogen sie, wie alle Kinder, mit Ablenkungsmanövern und Scherzereien im Badezimmer. Es kommt vor, dass Angehörige Schmuggelgut in Körperöffnungen der Kinder verstecken.

"Edler Bankräuber, böser Sexualstraftäter - die knallharte Männer-Hierarchie gibt es hier nicht", sagt JVA-Leiter Stumpf. "Frauen bestimmen subtil, ziehen Fäden. Am anstrengendsten sind die Betrügerinnen, sie können jede manipulieren", beschreibt die Pädagogin Senoner die Machtstruktur zwischen den fröhlich bunten Wänden. In dieser hermetischen Frauen-Gesellschaft zu bestehen, dürfte kein Vergnügen sein. Einmal pro Woche tagt das Gefangenen-Plenum, um die gröbsten Konflikte zu klären.

Lena Müller erzählt, dass sie vor zwei Monaten einen relativ einfachen Einstieg hatte, als sie mit ihrem Sohn und ein wenig Spielzeug direkt aus einer Münchner Pension kam, wo sie provisorisch lebte. "Das Gruppenleben ist nichts Neues für mich, ich bin im Heim aufgewachsen." Und dann erlebte sie eine Überraschung. In der Zelle nebenan, da saß nämlich Selina Lechner mit der kleinen Sofie. "Wir kennen uns seit 13 Jahren, wir waren im gleichen Heim. So trifft man sich wieder", sagt Lena Müller und lacht dann doch ein wenig bitter auf.

Die zwei Frauen, die früheren Heimkinder, halten jetzt auch hier zusammen. So wie ihre Kinder. Leon und Sofie haben sich schon angefreundet und bauen gerne Sandburgen - auf dem Dach des Gefängnisses.

© SZ vom 26.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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