"Kannibale von Rotenburg":Das Grauen, zweite Auflage

Lesezeit: 4 min

Sechs Jahre nach der Tat erscheinen neue Bücher über den "Kannibalen von Rotenburg". Der Wahrheitsfindung dienen sie nicht, eher der Schaulust des Lesers.

Tanja Rest

Die Frage muss kommen, das ist klar. Jeder Berichterstatter, der sich seines Publikums auch nur ansatzweise bewusst ist, weiß das. Warum sonst sollte er sich sechs Jahre danach auch mit diesem Fall beschäftigen, über den bereits alles und noch viel mehr gesagt und geschrieben wurde - wenn nicht, um die bittersüße Lust am Abgründigen ein weiteres Mal zu befriedigen? Das Publikum will die Bestie, auf dass es im Fernsehsessel gleichzeitig entsetzt aufjaulen und wohlig erschauern kann. Darum jetzt mal Tacheles, Kannibale: Wie hat es geschmeckt?

Der als Kannibale von Rotenburg bekannt gewordene Armin Meiwes (Archivbild). Neue Bücher über den Fall appelieren an die Schaulust des Lesers. (Foto: Foto: AP)

Armin Meiwes sitzt im Besucherzimmer der Justizanstalt Kassel, er trägt ein blaues Anstaltshemd und eine helle Baumwollhose und hat die Hände auf der Tischplatte gefaltet. Die Frage bringt ihn nicht aus dem Konzept, bestimmt hat er sie schon viele Male beantwortet, immer mit demselben freundlich-gleichmütigen Ausdruck im Gesicht. Der Kannibale weiß genauso gut wie der Reporter von RTL, was er seinem Publikum schuldig ist. Er sagt: "Das Fleisch schmeckt ähnlich wie Schweinefleisch. Etwas herber, kräftiger. Es schmeckt recht gut."

Alle Details der Schlachtnacht serviert

Am 10. Dezember 2002 wurde in der Stadt Rotenburg bei Kassel der Servicetechniker Armin Meiwes verhaftet, nachdem die Polizei in seinem Gutshof Menschenfleisch beschlagnahmt hatte. Meiwes legte ein umfassendes Geständnis ab. Er gab zu, dem Berliner Computerexperten Bernd Brandes am 9. März 2001 auf dessen Wunsch hin erst den Penis abgeschnitten, ihm dann die Kehle durchtrennt, ihn ausgeweidet und Teile des Fleisches verzehrt zu haben; all dies vor laufender Kamera. Das Landgericht Frankfurt verurteilte ihn am 9. Mai 2006 in zweiter Instanz zu lebenslanger Haft.

Die Öffentlichkeit hat im Lauf der beiden Prozesse so ziemlich alle Details der Schlachtnacht von Rotenburg serviert bekommen. Dass Meiwes das Filetstück seines Opfers mit Rosenkohl und Prinzesskartoffeln zubereitet hat. Dass er für sein "Abendmahl" das Sonntagsporzellan aus der Vitrine holte. Dass Menschen-, im Vergleich zu Schweinefleisch, "eher dunkel" ist.

Theaterstücke sind von dem Fall inspiriert, Bands haben ihn musikalisch verarbeitet (unter anderem Rammstein mit "Mein Teil"), zwei Filme wurden gedreht, von denen einer, "Rohtenburg", in Deutschland nicht gezeigt werden durfte, nachdem Meiwes vor dem Oberlandesgericht Frankfurt auf Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte geklagt hatte. Seit Bekanntwerden der Tat sind fast fünf Jahre vergangen. Irgendwann würde Ruhe einkehren, dachte man.

Mediale Verwertung

Nun sind innerhalb eines Monats gleich drei Beiträge erschienen, die jeder auf seine Weise an die offenbar anhaltende Schaulust der Masse appellieren. Auf dem Cover von Manfred Rißes "Abendmahl der Mörder" (Militzke Verlag) rinnt Blut in einen Abfluss; ein Aufkleber verspricht: "Für Leser mit starken Nerven! Ab 18 Jahren empfohlen".

Wer jetzt einen ebenso bluttriefenden Inhalt erwartet, sieht sich allerdings getäuscht. Der Autor leitet das Gießener Institut für Rechtsmedizin, er war einer der im Prozess hinzugezogenen Sachverständigen. Neben einer Darstellung des Falls und der diffizilen Rechtslage geht es ihm vor allem um Kannibalismus als kulturgeschichtliches Phänomen: Er leitet ihn her vom christlichen Ritus des Abendmahls - die Eucharistie als Verschmelzungsphantasie -, analysiert archaische Opferhandlungen von Naturvölkern und schildert historische Kriminalfälle mit kannibalischem Hintergrund. Mit Voyeurismus hat das wenig zu tun, Riße bleibt fast durchweg sachlich-wissenschaftlich. Nun soll sich sein Buch aber auch verkaufen, und die suggestive Umschlaggestaltung ist dabei bestimmt hilfreich.

Da ist der frühere Springer-Mann Günter Stampf mehr mit sich im Reinen - sein Beitrag hält, was er verspricht: "Interview mit einem Kannibalen" (Verlag Seeliger). Stampf hat Meiwes im Gefängnis besucht und lange Gespräche mit ihm geführt, er hat Nachbarn und Weggefährten interviewt, Einblick in die Gerichtsakten erhalten, Teile des Beweismaterials gesichtet. Er hat im Prinzip also alles beisammen, um den Fall den Schlagzeilentextern des Boulevards zu entreißen und in seiner ganzen Komplexität darzustellen. Aber darum geht es ihm nicht.

Kein Detail ausgespart

Stampf begreift die Geschichte von Armin Meiwes als Schauerstück, das er aus der Ich-Perspektive des entsetzten und angewiderten Gegenübers erzählt. Der Leser erfährt etwa, welche Albträume den Autor bei der Recherche heimsuchen und dass er sich nach einer Begegnung mit dem "Schlächter", wie er Meiwes auch nennt, übergeben muss.

Er hantiert mit albernen Menschenfresser-Assoziationen ("Ich habe das Gefühl, Armin Meiwes taxiert mich grammweise") und versäumt nie, die wirklich furchtbaren Passagen seines Buches mit großem Tremolo anzukündigen: "Es steht nun für so manchen ein realer Hardcore-Thriller an der Grenze oder besser jenseits der Grenze des Erträglichen bevor." Auf insgesamt 18 Seiten wird im Anschluss die Email-Korrespondenz zwischen Meiwes und seinem späteren Opfer abgedruckt, Stampf hält dies "aus journalistischer und juristischer Sicht" für "unabdingbar". Tatsächlich wird die sado-masochistische Phantasiewelt der beiden Männer nur ausgestellt, der Wahrheitsfindung dient sie nicht.

Wem auch dies bisher zu mühsam war, der kam vergangene Woche bei RTL relativ umstandslos ans Ziel. 60 Minuten, in denen kein Detail ausgespart blieb. Zum Auftakt saugt sich die Kamera an ausdruckslos-wasserblauen Augen fest, um dann langsam zum Mund runterzuschwenken - Assoziationen mit Hannibal Lecter explizit erwünscht. Abermals Stampf, Angesicht in Angesicht mit dem Kannibalen, diesmal vor laufender Kamera. Frage: "Sind Sie glücklich jetzt, weil Sie Herrn Brandes in sich haben?" Antwort: "Nach meiner Vorstellung ist er nun auch ein Teil von mir. Das ist ein guter Gedanke."

Pilgern zum "Kannibalen-Haus"

Abgerundet wird das Ganze durch Statements eines Kriminalprofilers, eines Sexualtherapeuten und des Meiwes-Anwalts Harald Ermel, der das Fernsehteam durch den Rotenburger Gutshof führt wie Touristen durch ein Spukschloss: "Zur Linken geht es dann über einen kleinen Flur in den Schlachtraum."

Manfred Fehr hat die RTL-Reportage nicht gesehen, auch die Bücher ignoriert er lieber. Der Bürgermeister von Rotenburg spricht von der Causa Meiwes als einem "traurigen menschlichen Fall, der leider in unserer Stadt passiert ist". Wochenlang seien damals Schaulustige und Kamerateams aus aller Welt zum "Kannibalen-Haus" im Ortsteil Wüstefeld gepilgert, Helikopter kreisten über der Stadt.

Als Meiwes endlich verurteilt war, haben sie aufgeatmet in Rotenburg und wollten zur Normalität übergehen - um festzustellen, dass die Welt sie nicht lässt. "Nach jedem Beitrag in den Medien ist das Interesse wieder da", sagt Fehr. Das Interesse der Spurensucher gilt natürlich ganz besonders dem 36-Zimmer-Gutshof, der seit Jahren leersteht. "Wenn irgendein Wahnsinniger jetzt sagt, ich will den Geist vom Meiwes erleben, und dort ein Museum des Kannibalismus eröffnet", überlegt der Bürgermeister von Rotenburg, "da hätt' ich schon Bedenken."

© SZ vom 24.10.07 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: