Jahreswechsel:Die Möglichkeit einer Insel

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In Deutschlands berühmtestem Ferienort feiern angereiste Promis und betuchte Einheimische seit jeher zusammen Silvester. Diesmal waren sie nicht allein unter sich - 78 Flüchtlinge leben derzeit auf Sylt. Ein Partybesuch.

Von Thomas Hahn

Abdimalik Mohamud Yusuf wählt den McDonald's in der Fußgängerzone von Westerland für das Gespräch über sein Jahr 2014. Es geht schon auf elf zu in dieser Silvesternacht, der Strom der Menschen strebt längst zum Strand, wo eine Party steigt und die bunten Raketen aufs Meer raus fliegen können. Die Stimmung ist heiter. Abdimalik Mohamud Yusuf setzt sich in eine Ecke. Er will sich nicht einladen lassen, und dann erzählt er von den vergangenen zwölf Monaten. Von der Flucht aus Somalia. Von der Trauer um seine Familie, die im Bürgerkrieg umkam. Von der Hoffnungslosigkeit, die zwischendurch nach ihm griff. 2014 war ein furchtbares Jahr für Abdimalik Mohamud Yusuf. "Das schlimmste meines Lebens."

Silvester ist ein seltsamer Tag. Er ist erst leise, und dann ganz laut. Man wägt ab, was war, was kommt, danach lässt man es krachen. Und wenn man an Silvester auf Sylt ist, um zu sehen, was jemand wie Abdimalik Mohamud Yusuf an diesem Tag denkt, scheinen die Gegensätze noch heftiger aufeinanderzuprallen. Flüchtlinge auf Sylt - geht das überhaupt? Sylt ist in den Köpfen der Deutschen, weil es ihre berühmteste Ferieninsel ist. Auf Sylt kann man Strickjacken für 670 Euro kaufen und Prominente urlauben sehen. Gerade an Silvester gilt Sylt als beliebte Feier-Destination. Flüchtlinge passen da schlecht ins Bild.

Es läuft arabische Popmusik. Später tanzt auch Politikerin Gabriele Pauli mit

Allerdings schert sich die Wirklichkeit selten um Klischees. Deutschland verteilt seine Flüchtlinge überallhin, auch nach Sylt, derzeit sind 78 dort. Außerdem hat Sylt nach dem Zweiten Weltkrieg schon mal einen ganzen Schwung von Flüchtlingen integriert. Und die Sylter Pastorin Susanne Zingel hat sogar den Eindruck, dass Einheimische und Flüchtlinge auf Sylt sich gerade deshalb relativ leicht begegnen, weil beide Gruppen hier vor den Kulissen einer Ferien-Kunstwelt leben. Susanne Zingel war in Altona, bevor sie in die Kirchengemeinde St. Severin in Keitum kam, und sie sagt: "In Altona hatte ich den Eindruck, dass man mehr aneinander vorbeiläuft."

Wenn es um Flüchtlinge geht, kann man Sylt jedenfalls als Schauplatz von Fürsorge und Nachbarschaftshilfe erleben. Es mag ein leises Befremden gegeben haben, als erstmals Flüchtlinge in ein Keitumer Reetdachhaus zogen. "Die Insel ist ja sehr deutsch", sagt Susanne Zingel, "da war es ein großes Ereignis, dass es hier plötzlich interkulturelle Begegnungen gab." Aber schnell ist ein Netzwerk rund um die neuen Nachbarn gewachsen, an dem sich Vereine, freie Gruppen, die Kirche und einzelne Helfer beteiligen - und das die begrenzten Möglichkeiten der Gemeinde ergänzt. Privatleute geben Deutschunterricht im eigenen Wohnzimmer. Der ehrenamtliche Betreuer Bernd Frühling hat beim TSV Westerland ein Fußballteam für Flüchtlinge zusammengestellt. Die Liedermacherin Sabine Krüger plant ein Musikprojekt.

Unbürokratische Beschäftigung ist ein Schlüssel zur Integration, weil die Flüchtlinge in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft weder arbeiten noch öffentliche Kurse belegen können. Durchschnittlich dauerte es bisher neun Monate, bis ein Flüchtling in Deutschland offiziell geduldet ist. "In diesen neun Monaten ist es wichtig, dass die Menschen Aufgaben haben, vor allem dass sie Deutsch lernen", sagt Hicham Lemssiah, Vorstandsmitglied des Vereins Integrationshilfe Sylt und Fraktionsvorsitzender der Insulaner-Piraten. In Sylt sieht er einen "beispielhaften Zusammenhalt der Bevölkerung". Und der Silvesterabend soll eine Feier dieses Zusammenhalts sein.

Das Keitumer Pastorat hat sich in eine Partyzone verwandelt. Unter Luftballons und Papierschlangen tanzen Menschen diverser Kulturen zu arabischer Popmusik. Später tanzt auch Gabriele Pauli mit, die Bürgermeister-Kandidatin aus Bayern. Und Lemssiah stellt einen der Sylter Flüchtlinge vor, die sich mithilfe der Nachbarschaft eine neue Existenzgrundlage erarbeitet haben. Mohamed Ratib ist vor dem Krieg in Syrien geflohen, Silvester vor einem Jahr hat er auf einem engen Schiff im Mittelmeer verbracht. "Das war ein bisschen schlecht", sagt er höflich.

Im März kam er in Deutschland an. Auf Sylt musste er erst mal auf seinen Status als Geduldeter warten, aber er bekam es gleich mit Nina Scharnowsky und anderen ehrenamtlichen Deutschlehrern zu tun. Er spricht schon ganz passabel, und mittlerweile hat er seinen Status. Erst kürzlich hat er ein Praktikum als Dachdecker absolviert, in dem Beruf, dem er auch in Syrien nachging. "Ich glaube, ich habe Glück dieses Jahr", sagt Mohamed Ratib, 27. Was er sich fürs neue Jahr wünscht? "Erst Sprache, dann Arbeit, dann Familie."

Die heile Flüchtlingswelt gibt es auch auf Sylt nicht. Im Pastorat spielt die Musik, aber vor allem die Bewohner der Unterkunft in Westerland bekommen ihre eingeschränkten Lebensumstände dort nicht aus dem Kopf. Sie merken, dass ein Reporter da ist und nutzen die Gelegenheit, um zu erzählen, dass es eng sei, dreckig, laut, und dass es nichts zu tun gebe. Man kann sie verstehen. Sie waren in ihrer Heimat mehr Komfort gewohnt.

"There is a German Sprichwort: Übung macht den Meister", sagt ein Sylter aus Somalia

Im McDonald's von Westerland fragt sich Abdimalik Mohamud Yusuf, 21, allerdings, ob das klug ist, sich immer zu beschweren. Er ist ein schmaler, sensibler Mensch, der anders als viele andere Flüchtlinge sehr gut Englisch spricht. Die Geschichte seiner Odyssee erzählt er mit einer Sachlichkeit, die nicht von seinem inneren Schmerz ablenken kann. Das vergangene Silvester verbrachte er in einem Flüchtlingslager in der Sahara. Kurz zuvor war er aus Baraawe im Süden Somalias aufgebrochen, wo er einen kleinen Laden besessen hatte, ehe der Bürgerkrieg kam und seine Familie auslöschte. Sechs Monate dauerte seine Reise über Äthiopien, Sudan, Sahara, Libyen und Italien nach Deutschland.

Für die anderen Somalier in der Westerländer Unterkunft war er ein wichtiger Vermittler, weil er so gut Englisch kann. Gleichzeitig bekam er den Horror seiner Geschichte nicht aus dem Kopf. "Da sind so viele Spuren in meinem Herzen", sagt er. Alles war traurig und anstrengend. Und irgendwann war es zu viel.

Erste Raketen steigen in den Himmel. Abdimalik Mohamud Yusuf sagt ruhig: "Vor zwei Wochen war ich im Krankenhaus. Weil ich Selbstmord begehen wollte."

Sylter Freunde haben ihn danach wieder aufgebaut. Beim Teehaus Ernst Janssen hat er ein Praktikum machen dürfen, Sabine Krüger und deren Tochter Andrea haben ihm gezeigt, dass er singen kann. Bei der Feier im Pastorat hat er zur Gitarre gesungen. "All of Me" von John Legend. "My head is under water but I'm breathing fine." Im Januar tritt er ein Praktikum als Automechaniker an. Ihm ist nicht entgangen, dass es im November Erleichterungen für Asylsuchende gab. "Ich bin dankbar, dass die Regierung uns erlaubt, nach drei Monaten zu arbeiten." Und bevor er gleich runtergeht zum Strand, um bei rauschender Brandung und Feuerwerk das neue Jahr zu begrüßen, will er mit so viel Deutsch wie möglich seiner neuen Hoffnung Ausdruck geben. "There is a German Sprichwort: Übung macht den Meister", sagt Abdimalik Mohamud Yusuf, der Sylter aus Somalia, "ich glaube wirklich, 2015 wird für mich ein wundervolles Jahr."

© SZ vom 02.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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