100 Jahre Bircher-Müsli:Mit Stumpf, Stiel und Zitrone

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"D Spys" des Schweizer Arztes Dr. Bircher-Benner ist zum alltäglichen Frühstück für Millionen geworden.

Von Thomas Kirchner

Mal ehrlich: Geschmeckt hat das Müsli der siebziger und achtziger Jahre selten. Man aß das Körnerfutter, weil es irgendjemand zum Leitlebensmittel der Öko-Bewegung erklärt hatte, zum Inbegriff der gesunden Ernährung.

Also schrotete man Roggen und Weizen in der Getreidemühle, schüttete Rohmilch und selbst gezüchteten Kefir dazu und hatte seine liebe Mühe, den Pampf zu verdauen. Dafür war er vollwertig, politisch korrekt und leichter herzustellen als Grünkernbratlinge.

Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor das Müsli seinen ideologischen Beigeschmack. Der Müsli-Mann, diese besonders deutsche, oft besungene und verspottete Spezies, ist nahezu ausgestorben.

Das Müsli wurde zum alltäglichen Nahrungsmittel, das man mag oder nicht. Das gesunde Image haftet ihm weiter an, auch wenn es längst industriell hergestellt wird. Unzählige Sorten lagern als Trockenfutter in den Supermärkten und warten darauf, angerührt und angereichert zu werden.

d Spys

Millionen Menschen beginnen ihren Tag mit dieser Speiseform. Entwickelt hat sie der Zürcher Arzt Maximilian Bircher-Benner (1867 bis 1939). Er verabreichte sie den Patienten in seinem Sanatorium "Lebendige Kraft", das 1904 auf dem Zürichberg eröffnet wurde - was die Schweizer nun zum Anlass nehmen, 100 Jahre Müsli zu feiern.

"Apfel-Diätspeise" nannte Bircher seine simple Mischung aus geriebenen Äpfeln, Haferflocken und Nüssen. Von "d Spys" (der Speise) sprach man in seinem Sanatorium. Erst später hieß sie "Müesli", die schweizerdeutsche Verkleinerungsform von Mus.

Beim Wort "Müsli" der Deutschen hingegen denken Schweizer an eine kleine Maus.

Mit seinem Mus wollte Bircher das "ideale Nahrungsmittel", die Muttermilch, ersetzen. Es habe fast denselben Anteil an Eiweiß, Fett und Kohlehydraten, glaubte er. Inspirieren ließ er sich von den zähen Sennhirten, die sich auf der Alp von gemahlenem Korn, Obst, Milch und zerkleinerten Nüssen ernährten.

Das Müsli sollte Frühstück, Abendbrot oder erstes Gericht des Mittagsmahls sein, so Bircher, keinesfalls Nachtisch oder bloßer Imbiss.

Wachstumsmarkt

Verbreitung fand es zunächst über Rezeptbücher und Ernährungsratgeber; die Nachkriegszeit überlebte es in der kleinen Reformhaus-Gemeinde. Seine spätere weltweite Popularität wäre indes undenkbar ohne die Produkte der amerikanischen Kellogg-Brüder: die "cereals", industriell aufgearbeitetes, tafelfertiges Getreide.

Cornflakes und Müsli gingen eine Verbindung ein, vor der es dem Frische-Fanatiker Bircher gegraust hätte.

Noch immer sind Müslis ein Wachstumsmarkt ersten Ranges. Im Zentrum steht nicht mehr das gute Bio-Müsli als "Protestspeise", sondern das "Techno-Müsli", wie es die Mannheimer Historikerin Eva Fuhry nennt.

Es ist aufwändig verarbeitet, süß, leicht verdaulich und schnell zubereitet: vor allem in Riegelform die Ergänzungsspeise zum Fitness-Studio. Von Birchers Jahrhundert-Erfindung ist es allerdings so weit entfernt wie die Draisine vom Mountainbike, weshalb es angezeigt erscheint, noch einmal das Original-Rezept des Rohkost-Pioniers zu erwähnen:

Renaissance

Zwei bis drei kleine Äpfel, gerieben mit Schale, Stiel und Gehäuse, gehören hinein, der Saft einer halben Zitrone, ein Esslöffel gezuckerte Kondensmilch (vermeidet Blähungen) sowie je ein Esslöffel Nüsse und eingeweichte Haferflocken.

In dieser Form, der leuchtenden Farbe wegen meist verlängert um ein paar Waldbeeren, erlebt das Bircher-Müsli zur Zeit eine kleine Renaissance. Vor allem in Zürich wird die Tradition gepflegt.

Die Müslis gibt es fertig angerührt in Restaurants, Bäckereien und selbst in den nobelsten Cafes. Das beste, so die Testesser des Zürcher Tages-Anzeigers, bietet das Café Schober im Niederdorf: Feiner und frischer geht's nimmer.

Sehr viel günstiger schon: Unschlagbar im Preis-Leistungs-Verhältnis ist das Fünf-Franken-Müsli in den Silberkugel-Restaurants, dieser typisch schweizerischen Fast-food-Kette, die zurzeit aber ums Überleben kämpft.

Es sieht ein bisschen nach Heringssalat aus, schmeckt recht säuerlich und apfellastig. Herr Bircher hätte seine Freude daran.

© SZ vom 10.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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