Interview:Franz Müntefering über Gefühle

Lesezeit: 10 min

Von Evelyn Roll

Herr Müntefering, wir wollen heute über Gefühle reden. Einverstanden. Interessant.

Was für Gefühle haben Sie hier oben bei diesem herrlichen Frühlingswetter und dem weiten Blick über Berlin? Nun, ich mag Städte. Ich schaue gerne auf große Städte. Das ist ja alles etwas anders, als bei uns im Sauerland. Da sieht man, wenn man aus dem Fenster schaut, nur Wiesen und Hügel und Wälder. Hier ist weniger Grün. Aber ich mag große Städte.

"Dieses ewige Ost und West sollten wir ruhig mal vergessen."

Und wenn Sie sich klar machen, dass diese große Stadt Berlin ist und dass vor vierzehn Jahren noch genau da unten die Mauer verlief? Wissen Sie, dieses ewige Ost und West und geteiltes Deutschland, das sollten wir ruhig mal vergessen. Das ist doch Vergangenheit. Sehen können Sie das von hier oben jedenfalls nicht mehr.

Sie sind einigermaßen plötzlich der Vorsitzende der altehrwürdigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands geworden. Sie stehen im gleißenden Sonnenlicht auf dem Dach des deutschen Reichstages. Über Ihnen knattern schwarz-rot-goldene Fahnen im Wind. Die Touristen wollen sich mit Ihnen fotografieren lassen. Und Sie leisten sich keinerlei Emotionen? Doch, natürlich. Ich denke, jeder muss da, wo er steht, tun, was er kann. Und ich hoffe, dass ich dieser großen Aufgabe gerecht werde.

Letzter Versuch. So etwas wie: Der kleine Franz aus Sundern hat es aber ganz schön weit gebracht! Wenn das meine Mutter noch erlebt hätte! So etwas leisten Sie sich nicht?  ...

Jedenfalls nicht öffentlich, oder? Nein. Also: Ja.

Kann es sein, Herr Müntefering, dass es keine gute Idee ist, ausgerechnet mit Ihnen über Gefühle reden zu wollen? Doch. Gefühle sind wichtig. Politik lebt von Vertrauen. Man kann das Vertrauen von Menschen nur gewinnen, wenn man sich für ihre Gefühle interessiert. Für einen Politiker sind die Gefühle der Menschen also etwas ganz Entscheidendes. Wann haben Sie diese Zusammenhänge zum ersten Mal verstanden? Eigentlich von Anfang an. Es kommt in der Politik darauf an, dass die Menschen einen mögen, dass sie einem vertrauen. Ich war 1977 als junger Delegierter dabei, als Friedhelm Farthmann Parteivorsitzender in Nordrhein-Westfalen werden sollte. Dann hielt Johannes Rau eine Rede. Und plötzlich wurde er Parteivorsitzender.

"Was macht der Rau da eigentlich?"

Was war das für eine Rede? Es war nicht so sehr die Rede selbst. Es war mehr die Art und Weise des Auftritts: sympathischer, kompetenter, näher an den Delegierten. Einer, dem man vertraut eben. Wie oft bin ich seither neben Johannes Rau gesessen, wenn er geredet hat, und habe gedacht: Was macht der da eigentlich? Das ist doch gar keine Rede, der erzählt doch nur Geschichten. Wenn man dann runter in den Saal kommt, hört man die Leute sagen: Das ist ein Kerl! Dem kannst du vertrauen! - Wo kommt eigentlich dieses Vertrauen her? Wie erreicht man das? Das wurde bald zu meiner Zielfrage überhaupt, erst Recht, als ich später anfing, Wahlkämpfe zu organisieren: Weshalb vertrauen die Menschen dem einen so sehr und dem anderen weniger? Wie entsteht dieses Gefühl, aus dem Vertrauen erwächst?

"Ich will Ihnen etwas Gefährliches sagen..."

Und haben Sie Antworten gefunden? Bruchstücke von Antworten: Willy Brandt und Johannes Rau haben zum Beispiel nie vorgegaukelt, sie seien die Größten der Welt, die von allem etwas verstehen. Aber sie haben glaubwürdig vermittelt, dass sie wissen, was sie tun. Das scheint mir ganz wichtig zu sein. Aber das ist es nicht allein.

Was noch? Wollen Sie nicht verraten, wie man als Politiker diese Gefühle erzeugt? Oder funktioniert es nicht mehr, wenn es erklärt ist? Ich will Ihnen etwas Gefährliches sagen, ich weiß gar nicht, ob das klug ist: Ich glaube, dass unsere Parteien so etwas sind wie säkularisierte Kirchen. Die Tatsache, dass ich aus der katholischen Ecke komme, hat mir geholfen, diese Tatsache schon sehr früh zu begreifen.

Als Sie sagten, Parteivorsitzender der SPD sei das zweitschönste Amt nach dem Papst, haben Sie ja einen Hinweis in diese Richtung gegeben. Aber was genau meinen Sie mit 'wie säkularisierte Kirchen'? Damit meine ich: Auch eine Partei ist eine Art Überzeugungsgemeinschaft, eine Gemeinschaft, zu der man dazu gehört, die sich einig ist, in der alle auf das eine Ziel hingehen, in der es gemeinsame Überzeugungen - ich will nicht sagen: Glauben - und auch bestimmte gemeinsame Rituale gibt. Und ich bin einer in diesem ganzen Geschehen.

"Meine katholische Prägung zahlt sich aus..."

Was bedeutet das? Das bedeutet nichts Vordergründiges. Das bedeutet, dass bestimmte Strukturen in den Gehirnen entstehen, bestimmte Verhaltensweisen. Das, was man in diesen Jahren der so genannten frühkindlichen Prägung erlebt hat, das bricht sich immer wieder Bahn im Leben und im Verhalten des Einzelnen. Und ich habe offenbar in diesem katholischen Sundern eine Prägung bekommen, die sich jetzt auszahlt an einer ganz anderen Stelle, als man bei mir geglaubt hätte...

Das heißt, die interessante Analyse, Parteien funktionieren wie säkularisierte Kirchen, kann nur einer verstehen und in richtiges Führungs-Handeln umsetzen, der aus einer streng kirchlich geprägten Umgebung kommt und sich deswegen in die Gefühle von Parteimitgliedern hineindenken kann? So hochmütig will ich gar nicht sein. Ich habe das nicht rationalisiert. Ich bin das nicht gezielt angegangen.

Eher intuitiv? Muss man, wie in anderen Glaubensgemeinschaften auch, bei Parteien auf archaische und symbolhafte Muster zurückgreifen, wenn man sie erfolgreich führen will? Es hat einfach viel damit zu tun, wie die Menschen sind und wie sie in einer Zeit leben, welche Grunderfahrungen sie haben, in welchen Bezügen sie groß geworden sind. Man darf den Gläubigen nicht alles nehmen, erst Recht nicht, wenn sich um sie herum alles verändert.

Und weil Sie das verstanden haben, konnten Sie zum Messias der Rechtgläubigen in der SPD werden? So würde ich es wirklich nicht ausdrücken.

"Beängstigend."

Das mit den Rechtgläubigen ist ein Zitat von Ihnen. Und die Veranstaltungen mit Franz Müntefering glichen ja zumindest eine Zeit lang sozialdemokratischen Erweckungsmessen. In Koblenz zum Beispiel ist zum Schluss eine junge Frau mit blonder Mähne aufgestanden und rief in den Saal: ,Lasset uns das, was Franz gesagt hat, ins Land tragen.' Wenn das nicht messiasmäßig klingt. Beängstigend. Wie war das überhaupt mit diesen Roadshows, Ihren Reisen zur Basis? War das ein bisschen bei Angela Merkel abgeguckt, die ja über solche Reisen zur Basis schließlich auch Parteivorsitzende wurde? Abgeguckt? Also zumindest nicht bewusst. Aber man ist ja immer nur Eklektizist. Wir alle sammeln irgendwo. Da darf man gar nicht so eitel sein.

Man könnte ja sowieso auf die Idee kommen, dass die Generalsekretäre inzwischen offenbar die natürlichen Parteivorsitzenden sind. Weil sie im politischen Betrieb offenbar die Einzigen sind, die die Menschen in so einer Partei mit ihren Gefühlen noch wirklich kennen und ernst nehmen. Das mit den Generalsekretären, die Parteivorsitzende werden, ist eine Analogie, die mir auch schon durch den Kopf gegangen ist. Das mag mit der Nähe zur Partei zusammenhängen. Keiner ist mehr und öfter mit den Ehrenamtlichen und den Hauptamtlichen einer Partei in Verbindung als der Generalsekretär oder Geschäftsführer.

"Menschen in Parteien brauchen die Gefühle."

Es reicht doch offensichtlich, mit den Wählern über Medien zu kommunizieren? Ja, man hat fast keine andere Chance.

Mit der Partei aber muss man direkt kommunizieren? Ja, genau. Menschen in Parteien wollen sich nicht in die anonymen Kommunikationsformen begeben. Sie brauchen das Zwischenmenschliche, das Mitmenschliche, die Gefühle. Wenn ich in einer Versammlung von den dreihundert Leuten, die gekommen sind, dreißig mit Namen kenne und sie angucken und ansprechen kann, wenn wir dann anschließend ein Bier miteinander trinken, dann ist das eben etwas ganz anderes, als wenn ich denen einen Brief schicke oder eine Argumentationshilfe über das Internet.

Weil das Gefühl fehlt? Welches Gefühl? Das Gefühl beteiligt zu sein. Das Gefühl, etwas mit den Entscheidungen zu tun zu haben. Die Menschen glauben nicht mehr, was sie lesen, weil es zu viele gedruckte Information gibt. Deswegen lesen sie auch gleich gar nicht mehr. Das geht bis in die Parteivorstände hinein. Sie können alles aufgeschrieben haben in Briefen oder Flugblättern. Wenn sie den Menschen dann begegnen, sagen die: Franz, du musst uns mal informieren.

Als Sie dann Parteivorsitzender wurden, haben Sie in den ersten Wochen oft im Wortlaut dasselbe gesagt wie Gerhard Schröder. Als Sie es sagten, war plötzlich genau das gut und in Ordnung, was bei Schröder immer so verdächtig, falsch und nicht sozialdemokratisch war. Ein krasseres Beispiel für die Irrationalität von Politik gab es schon lange nicht mehr. Gefühl wäre das viel bessere Wort. Irrationalität ist ja verdächtig. Und außerdem weiß ich gar nicht, ob es so ist wie Sie es schildern.

Doch, so ist es. Schröder hat es neulich selber gesagt: Wenn zwei das Gleiche sagen und das Gleiche tun, kommt es beim Empfänger doch nicht gleich an. Ich glaube, dass den Menschen in der Partei das Gefühl hilft: Wir werden jetzt geführt von einem Partei-Mann. Wir bekommen nicht mehr aus dem Kanzleramt gesagt, was Sache ist. Und wenn man etwas aus eigenem Willen heraus, aus eigener Überzeugung heraus macht, aus der Partei heraus, dann ist das, auch wenn es dasselbe ist, sehr viel leichter und besser, als wenn man das oktroyierterweise machen muss.

"Man kann nicht immer erst die großen Pläne machen."

Obwohl es ganz genau so eine Ansage von oben ist? Im Grunde führt das auf eine Frage, die ich nicht zu Ende beantworten kann: Ob nicht in der Schnelllebigkeit der Zeit, die wir haben, politische Prozesse anders laufen, als wir uns das so idealtypisch vorstellen. Wie stellen wir es uns idealtypisch vor? Dass Politik vom Ortsverein über den Unterbezirk über den Bezirk, den Landesverband bis zur Parteispitze funktioniert. Dann machen wir einen Parteitag und die Fraktion bekommt einen Auftrag. Den gibt sie an die Regierung. Und nach zwei oder drei Jahren ist man so weit, dass man ein Gesetz hat.

Das ist die Idealvorstellung einer Programmpartei. Wenn man an der Regierung ist, muss man in der Bewegung beweglich sein und handeln können. Wenn die Methode Schröder ist, Situationspolitiker zu sein und Meister des Augenblicks, dann ist das eben überhaupt nicht falsch, sondern vielmehr heute die einzige Möglichkeit zu regieren. Man kann nicht immer erst die großen Pläne und Programme machen. Wenn Sie ans Ski fahren denken, an die Sturzfahrt oder wie das heißt...

Schussfahrt. Schussfahrt ist schon schlimm genug. Jedenfalls, wenn man plötzlich merkt, man muss ab und zu mal Slalom fahren, dann muss man das auch machen dürfen. Das ist Beweglichkeit in der Bewegung. Und damit wären wir ja wieder bei Gefühlen. Es kommt dann darauf an, dass man den Fans und Vereinskameraden am Pistenrand wenigstens das Gefühl vermittelt, beteiligt zu sein an diesen spontanen Kurvenentscheidungen und nicht zum Kanzlerwahlverein degradiert zu sein. Man kann da schon sehr viel mehr tun, als wir in den letzten Jahren getan haben.

Jetzt zu ganz anderen Gefühlen. Zu Ihren Gefühlen. Schröder hat Ihnen in einem bemerkenswerten "Tagesspiegel"-Interview die Freundschaft angeboten. "Ich wollte, er wäre mein Freund." War das von Ihnen beiden inszeniert? Nein, da war nichts inszeniert. Ich war sehr überrascht.

"Zu spröde für plötzliche Freundschaftsanträge."

Haben Sie deswegen so abweisend reagiert? Weil ich gesagt habe, ich sei kein Kumpeltyp? Ich wollte damit nicht abweisend sein, sondern etwas anderes sagen.

Was? Dass ich möglicherweise etwas zu spröde bin für so plötzliche Freundschaftsanträge. War es Ihnen peinlich?  Nein.

Und haben Sie Schröder inzwischen mal angerufen und gesagt: Mach Dir keine Sorgen. Ich bin doch Dein Freund? Nein.

Warum nicht? Die Personalisierung von Politik ist zwar nicht falsch. Man muss nur ständig aufpassen, dass man kein Öl in ein Feuer gießt, das schon groß genug ist. Die Grundfrage ist doch: Kommen wir klar miteinander? Dazu sage ich: Ja. Ich weiß, was seine Rolle ist. Er kennt meine.

Als die Troika Schröder, Lafontaine und Scharping sich immerzu öffentlich umarmt hat, konnte man sehen, wie Ihnen das auf den Wecker gegangen ist. Hhm.

"Auf Lafontaine bin ich immer noch ziemlich sauer"

Aber dann haben Sie den Wahlkampf organisiert und die Themen Innovation und Gerechtigkeit geschickt und medienwirksam auf zwei Personen verteilt, die bis dahin gleichberechtigt für beides standen. Daran leidet die SPD noch heute.  Wieso?

Als Lafontaine weglief, blieb nur der große Innovator Schröder übrig. Für die Gerechtigkeit gab es keine Symbolfigur mehr. Zurück blieb eine Gerechtigkeitslücke, eine emotionale und irrationale Gerechtigkeitslücke. Deshalb bin ich auf den Lafontaine auch immer noch ziemlich sauer. Er hat das im Nachhinein systematisch in eine für uns gefährliche Richtung gebracht und seither immer den Sozialen gespielt.

Und weil die Chefs der "Bild"-Zeitung auch eine Menge von Emotionen und Politik verstehen, haben sie dem Lafontaine dafür eine schöne Bühne bereit gestellt. Als ich noch nah mit Lafontaine zusammengearbeitet habe, da durfte man die Bild-Zeitung nicht einmal lesen. Jedes Mal, wenn ich seine Artikel dort sehe, packt mich seither das Grausen.

Haben Sie ihm das mal gesagt? Nein, wir haben noch nicht wieder geredet miteinander seit jenem 11.März.

Klingt traurig. Herr Müntefering, haben Sie schon einmal aus im weitesten Sinn politischen Gründen geweint? . . .

Tränen in den Augen gehabt? . . . Ja oder Nein? Man muss ja keine Tränen in den Augen tragen, um Gefühle zu haben.

Kann es sein, dass ein Politiker sich zwar sehr gut mit den Emotionen der anderen auskennen muss, dass er Emotionen auch erzeugen, aber selber keine haben - oder zeigen - darf? Es kommt darauf an, ob die Emotionen echt und glaubwürdig sind.

"Das gute Gefühl, die eigene Seele zu retten."

Wie wird es weiter gehen zwischen Schröder und Ihnen? Muss ein Kanzler immer zum Parteivorsitzenden halten, auch, wenn der etwas vom Kanzler längst als falsch Erkanntes unbedingt durchsetzen will? Und umgekehrt genau so? Das kann man abstrakt nicht beantworten.

Wo sind die Grenzen der Loyalität? Wie war es, als Willy Brandt nicht mehr zu Helmut Schmidt stand? Bei den großen Fragen war ich 1982 emotional auf der Seite von Willy Brandt. Ich war auf diesem Kölner Parteitag, wo dann nur zehn Leute übrig blieben, die mit Schmidt stimmten. Und im ersten Moment hatte ich das gute Gefühl, man könnte so die eigene Seele retten.

Und im zweiten und dritten Moment? Na ja, das ist das, was ich jetzt immer beschreibe. Nach drei Monaten wusste ich, dass das Mist war. Da war aber nichts zu machen. Und es gab keine Perspektive mehr. Heute weiß ich: Man kann in einer Regierungskoalition, auch wenn sie noch so schwierig ist, eine Menge erreichen und gestalten. Wenn du draußen bist, bist du draußen, und zwar mit einer Absolutheit, die deprimierend ist.

Und das möchten Sie gerne nicht noch einmal erleben? So ist es.

Franz Müntefering, Jahrgang 1940, wuchs als Einzelkind im Arbeitermilieu der katholischen Kleinstadt Sundern im Sauerland auf. Über sein Engagement gegen die "Aktion saubere Leinwand" fand er in den 60er Jahren zur SPD, die damals in Sundern 20 Mitglieder hatte. Seither war er Stadtrat, Bundestagsabgeordneter, Bezirksvorsitzender, Landesminister, Vorsitzender der Landespartei, Bundesgeschäftsführer, Bundesminister, Generalsekretär und Fraktionsvorsitzender. Seit Februar ist Müntefering Vorsitzender der SPD. Er ist verheiratet und hat aus erster Ehe zwei Töchter.

(SZ vom 30.4.)

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