Haus des Kinderschänders Dutroux:Schandfleck oder Mahnmal?

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Im belgischen Charleroi diskutiert man, was mit dem Haus des Kinderschänders Marc Dutroux geschehen soll. Vor 13 Jahren erlebten seine Opfer dort ein unbeschreibliches Martyrium.

Cornelia Bolesch

Selbst unter strahlend blauem Winterhimmel sind einige Ecken dieser labyrinthischen Stadt so hässlich, dass einem der Atem stockt. In der Route de Philippeville ganz in der Nähe des Bahnhofs stehen die Häuser mit ihren meist schäbigen Backstein-Fassaden nur wenige Meter von den Gleisen entfernt.

Polizisten stehen im April 2004 in der Route de Philippeville vor dem Haus des Kinderschänders Dutroux. An der Hausfront hängt nun ein farbenfrohes Plakat. (Foto: Foto: AFP)

Fast über die Dächer hinweg schraubt sich auf Stelzen die Autobahn empor. In diesem chaotischen Niemandsland haben vor dreizehn Jahren Julie und Melissa, An und Eefje, Sabine und Laetitia ihr unbeschreibliches Martyrium erlebt.

Das Haus ihrer Qualen trägt die Nummer 128. Die Ziffern sind nicht mehr zu sehen. Alle Konturen des Gebäudes, in das der Psychopath Marc Dutroux seine Opfer verschleppte, sind hinter einem bunten Plakat verschwunden.

Anstelle der verwahrlosten Vorderfront ist jetzt ein Kind zu sehen, das einen Drachen steigen lässt. Als Dutroux zu lebenslanger Haft verurteilt und das Haus nicht mehr als Beweismittel benötigt wurde, schirmte sich Charleroi mit dem farbenfrohen Bild gegen die dunkle Vergangenheit ab.

"Es ging auch darum, die Nachbarn zu schützen", erklärt der Gemeindedezernent Eric Massin. "Wildfremde Leute haben bei ihnen geklingelt, Touristen, Reporter. Einige fragten, ob sie einen Schlüssel haben könnten, um in das Haus zu kommen."

Das Opfer Sabine Dardenne hat in einem Buch beschrieben, wie es darin aussah: "Ein quadratischer Raum, kaum möbliert. Am Boden Ziegel, Zementsäcke, Werkzeug. Mein erster Eindruck sagte mir, dass ich nicht in einem normalen Haus war, in dem normale Menschen leben."

Im Keller verhungert

Da hatte sie das Schlimmste noch gar nicht gesehen: das Versteck im Keller. Ein teuflisch konstruiertes Loch von 99 Zentimeter Breite, zwei Meter und 34 Zentimeter Länge, ohne Fenster, verborgen hinter einer 200 Kilo schweren Tür. Hier unten verhungerten die achtjährigen Mädchen Julie und Melissa auf einer verschmuddelten Schaumgummi-Matratze.

Die siebzehn und neunzehn Jahre alten Teenager An und Eefje hatte Dutroux im ersten Stock mit einer Kette festgebunden. Die Leichen der vier Mädchen wurden später auf verschiedenen Grundstücken in der Region entdeckt. Die zwölfjährige Sabine und die vierzehnjährige Laetitia gab das Haus lebend frei.

"Es ist schwer, sich immer wieder daran zu erinnern." Eric Massin ist in Charleroi für Stadtentwicklung zuständig. Wer ihn sprechen will, muss mit der Metro nach Gilly fahren, in eine der 15 Randgemeinden, die 1976 zum Großraum Charleroi vereinigt wurden.

Die einstige Stahlhochburg wuchs damit mit einem Schlag auf 200.000 Einwohner und wurde zur größten Stadt in der Wallonie. Doch sie zerfällt weiter in ihre Einzelteile. Sie kämpft mit hoher Arbeitslosigkeit und dem Erbe einer verfilzten sozialistischen Verwaltung. Ihr berühmtestes Stadtviertel ist ausgerechnet Marcinelle. Dort hat sich der arbeitslose Elektriker Dutroux aus Brüssel vor vielen Jahren ein billiges Haus gekauft.

Zwei Jahrzehnte später treibt Eric Massin den Plan der Stadt, dieses Haus vom Erdboden zu tilgen und Dutroux dafür zu enteignen, weiter voran. Am Ort des Schreckens soll ein "Garten der Erinnerung" entstehen, mit Pflanzen und einer Skulptur. "Ich wollte auch mit den Familien der Opfer sprechen. Ich habe sie eingeladen. Aber niemand ist gekommen. Keiner hat reagiert." Die Familien geben dem Staat die Schuld an dem, was ihren Kindern angetan wurde. Der Vater von Julie sagte im Fernsehen, das Haus solle als ewiges Mahnmal stehen bleiben.

Auf der nächsten Seite: Warum viele das Haus abreißen wollen - und was an dessen Stelle entstehen soll.

Eric Massin dagegen will "die Dinge verändern, ohne zu vergessen". Er glaubt, die meisten Leute in Charleroi hätten kein großes Interesse mehr am Fall Dutroux.Im "Maison de la Presse", dem Journalistentreff gegenüber dem Justizpalast, geben ihm die Zeitungen auf den ersten Blick Recht. Längst haben andere Greuel die Schlagzeilen erobert. Ein belgischer Arzt berichtet von den verheerenden Zuständen im Gazastreifen. Erst auf Seite 15 der Lokalzeitung wird klein gemeldet, dass Marc Dutroux ins Gefängnis von Nivelles verlegt worden sei, 25 Kilometer von Charleroi entfernt.

Unvorstellbare Martyrien: Der geheime Keller im Haus von Marc Dutroux in der Rue de Philipville, aufgenommen im Jahr 1996. (Foto: Foto: AFP)

Das Auf und Ab des Interesses - Franco Meggetto hat es mitgemacht. Der Sprecher der Polizei sitzt im Maison de la Presse, trinkt deutschen Wein und erinnert sich, wie er nach der Aufdeckung der Taten vor dem Dutroux-Haus campierte, um ja nichts zu verpassen. Da war er noch freier Journalist. Bei der Polizei half Meggetto mit, den großen Gerichtstross nach Marcinelle zu organisieren. Sämtliche Prozessbeteiligte waren 2004 aufgebrochen, um in der Route de Philippeville mit eigenen Augen zu sehen, was die Hölle auf Erden bedeutet. Es war der letzte große symbolische Akt rund um das Horror-Haus. Kurz danach hat die Stadt das bunte Plakat aufgestellt.

Franco Meggetto sagt: "Für die Jüngeren ist der Fall Dutroux so fern wie die Mondlandung."Er ist dafür, das Haus endlich abzureißen. Leute wie er blieben sowieso auf ewig mit den Ereignissen verknüpft. Meggetto hat zwei Kinder. Die habe er damals, als alles über Dutroux herauskam, kaum mehr auf die Straße gelassen. Einer ganzen Generation von belgischen Kindern sei es ähnlich ergangen. Der Polizeisprecher schüttelt den Kopf. Irgendwann müsse man sich von dem Schrecken lösen. "Eine Gesellschaft muss sich fortbewegen."

Die Funktion des Schrecklichen

Auch in Marcinelle sieht man Versuche, sich fortzubewegen. Einige Fassaden sind wie zum Trotz frisch bemalt und mit Blumen geschmückt. Auf die lange Betonwand vor den Gleisen haben Schulkinder Friedensbotschaften gezeichnet. "Das kommt nicht aus dem Viertel. Das wurde hierher importiert." Fast verächtlich schaut Francoise Barré auf diese Malaktion. Die junge Reporterin arbeitet heute für das Lokalradio Vivacité. Sie hat das Kellerverlies mit eigenen Augen gesehen. Seither lebt sie im Widerspruch zur vorherrschenden Meinung in Charleroi. "Das Haus soll stehen bleiben. In seiner ganzen Schrecklichkeit. Es hat eine pädagogische Funktion zu erfüllen".

Es sind Fragen, die keinen der Anwohner besonders beschäftigen. Eine rumänische Familie wohnt seit einigen Monaten neben dem Haus. Doch, sie kenne den Namen Dutroux , radebrecht die Mutter von fünf Kindern. Sie wohne aber gerne hier, es sei billig. Eine junge blasse Frau verlässt das Haus nebenan. Sie führt ein kleines Mädchen an der Hand. Nein, sagt sie, sie habe im Prinzip nichts gegen ein Park der Erinnerung. "Aber die Leute werden ihren Müll hineinwerfen."

Nicht nur in Charleroi ringt man um das richtige Erinnern. Dutroux hat in der Region mehrere billige Häuser besessen, seine Frau und seine drei Kinder lebten in Sars-La-Bussiere. Auf dem Grundstück wurden die Leichen von Julie und Melissa ausgegraben. Auch dort sollen jetzt die Mauern eingerissen werden. Es soll ein Raum entstehen, wo der Schrecken etwas weichen kann.

© SZ vom 21.01.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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