Gute Vorsätze:Schuld und Sahne

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Zu dick? Zu krank? Zu blau? Wir gestehen alles — und sündigen dann aufs Neue.

Von Udo Pfaller

Egal, in welchem gesellschaftlichen Umfeld sie sich auch abspielen, in gewisser Hinsicht sind Gesprächsrunden von heute austauschbar. Zum Beispiel ist immer einer von den Anwesenden gerade wieder einmal zu dick.

(Foto: Foto: ddp)

Sein Gegenüber ist momentan in der Phase, in der er "viel zu viel Alkohol" trinkt; schon bald soll aber Schluss sein mit dem Lotterleben. Ein Anderer äußert derweil den Verdacht, dass er zu viel Zeit mit den falschen Leuten verbringt und er deswegen zu wenig Zeit hat zum Zeitunglesen.

Ein jeder dieser Gesprächsteilnehmer hat vor, mit etwas aufzuhören und dafür mit etwas anderem anzufangen, so als sei täglich Silvester, kurz vor zwölf: der Moment der guten Vorsätze.

Und jeden Abend Sport

Unausweichlich führt so ein Abend zu einer gemeinschaftlich vorgetragenen Liste: keinen Lieferservice mehr, sondern gut und schlank zu Hause kochen. Nie wieder rauchen, aber trotzdem auch nicht zunehmen — machbar, wenn man den Alkohol weglässt und stattdessen endlich die zwei, drei Liter Wasser trinkt, von denen alle schon seit Jahrzehnten predigen.

Oh, und natürlich jeden Abend Sport, oder wenigstens dreimal die Woche, denn der Rücken tut weh, wenn es nicht gerade die Knie sind. So bestärkt man sich einander. Und trennt sich wieder. Der Mensch, bei dem alles ganz normal läuft, verlässt anscheinend nicht mehr das Haus.

Oder er äußert sich ungern. Vielleicht ist er auch einfach ausgestorben. Alle anderen jedenfalls sind damit beschäftigt, sich zusammenzureißen, um sich dann wieder eine Zeitlang gehen zu lassen, ehe sie reumütig werden und sich wieder zusammenreißen. Kein Wunder.

Eine der Galionsfiguren dieses Landes und dieser Lebensform ist Joschka Fischer. Fragte man ihn heute, wer oder was ihm einst die Willenskraft verlieh, annähernd 40 Kilo zu verlieren, dann würde er wahrscheinlich diplomatisch antworten: Das tut doch heute nichts zur Sache. Oder: Das weiß ich nicht mehr. Oder: Das habe ich für mich selbst getan. Schließlich hieß sein Buch ja "Mein langer Lauf zu mir selbst". Warum er, warum wir so leben, ist trotzdem sonderbar.

Vielleicht gibt es dieses Auf und Ab schon länger. Spür- und sichtbar ist es aber erst seit der Weiterentwicklung der Ernährungswissenschaften. Diät kommt von dem griechischen Wort diaita und bedeutete in der Antike "Heilung der Lebensweise".

Heute heißt es nur noch: abnehmen. Wir können aus einer Fülle von Ernährungsmethoden wählen, allesamt präsentiert mit einem plausiblen Begriff, gestützt auf die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaften. Die Frage, wie man sich ernähren soll, mündet zügig in der philosophischen Frage, wer man überhaupt sein soll, sein will oder ist.

Das kann man sich mit der passenden Diät nämlich gleich mit aussuchen, denn die Identifikationsfiguren wie Sportler, Prominente oder, siehe oben, Politiker haben längst alles getestet und öffentlich für gut befunden.

Das Angebot an Verzichtsmethoden ist parallel zum Angebot an Verführungen gewachsen, und beide Pole fördern die extreme Lebensweise, machen sie sogar plausibel. Auch in anderen Bereichen: Wir kaufen unsere Garderobe bei der Billigkette Hennes und Mauritz, nehmen es aber gleichzeitig hin, dass ein Schuh von Marc Jacobs, Givenchy oder Chanel 400 Euro kostet, obwohl er nichts anderes ist als eine hübsche Laufunterlage.

Wir kaufen ihn trotzdem — um anschließend wochenlang eisern zu sparen. Wir nehmen alles mit, was riesiger, schneller, größer, gefährlicher wird, um es uns hinterher zu versagen. Unser Leben verläuft nach dem Prinzip Jo-Jo-Effekt.

Langsam, doch beständig

Vielleicht ist es kein Zufall, dass auch das Jo-Jo in Griechenland erfunden wurde; im 19. Jahrhundert, als Sportgerät, so glaubt man. Im 20. Jahrhundert jedenfalls kam das Wort Jo-Jo-Effekt auf, also das Zurückschnellen und -schwellen nach einer Diät, denn ist das Leiden einmal abgeklungen, fehlt der Anreiz, weiter durchzuhalten.

Ausgeputzt kehrt man zu der vorherigen Lebensweise zurück — langsam, doch beständig, wie das Jo-Jo an seiner Schnur hinaufrollt. Dass es sich auf der Mitte seiner Schnur einfindet, erscheint ebenso unmöglich, wie eine Lebensweise zu finden, die glücklich macht und stimmt.

Die Entscheidungsfreiheit erlaubt es zwar, sich ausschließlich von Bringdienstfraß zu ernähren, denn es macht ja keinen Spaß, stundenlang eingepfercht zwischen Einkaufswagen in einer Schlange zu warten — doch genau diese freie Entscheidung, diesen Spaß macht anschließend unser Schuldgefühl wieder zunichte.

Haushalten zu können ist schließlich eine menschliche Tugend, nur einem Tier sind Haus und Maß egal. Der Eber würde, an die Vorratsrutschen des Schnellrestaurants gelassen, in einen Fressrausch verfallen. Der Mensch, der sich diese Stätten alle selbst geschaffen hat, kann sich zügeln, da er einen Willen hat, der den Instinkt regelt.

Und genau dort ist offenbar der Jo-Jo-Effekt zu begründen: beim Willen. Angesichts der vielen Möglichkeiten und vom vielen Anspannen ist er so ausgeleiert wie ein überdehntes Gummiband.

Reden hilft

Der Mensch fühlt sich plötzlich so leblos, so alt, da sein Leben anscheinend nur noch von seiner Vernunft bestimmt wird. Also gibt er seinem Instinkt nach.

Auch dem, bei geselligen Runden von nichts anderem zu reden als von seinen Sünden, während er früher verschämt darüber geschwiegen hätte oder zur Beichte gegangen wäre.

Die plötzlichen Schwenks in der Lebensführung — nie wieder rauche ich, und mein Mobiltelefon schmeiße ich auf den Müll — sowie das Eingestehen von Willensschwäche — eine Zigarette wäre jetzt nicht übel, aber hinterher fange ich bloß wieder richtig an — solche JoJo-Effekte des Gewissens bestimmen das Denken und Fühlen und Sprechen unserer Zeit; unseren Alltag.

Denn die Sühne, die der Mensch vor seinem Gott leistete, leistet er heute voreinander, nach dem Motto: Wer offen darüber redet, wie schlecht er sich benommen hat, wer sich somit als Mensch beweist, der hat doch einen Teil der Schuld bereits wieder abgegolten.

Doch wer beispielsweise Oscar Wilde gelesen hat (statt sich mit den falschen Leuten abzugeben!) weiß: Andere Menschen zu langweilen kann auch eine Sünde sein. Und die ist weder durch Gottesfurcht noch durch Offenheit zu begleichen, sondern nur durch verteufelt amüsante Geschichten; beim nächsten Mal.

© SZ vom 5.2.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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