Gewalt:Mord an einem Lehrer schockiert die Niederlande

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Ein 17-Jähriger erschießt den Konrektor in der Kantine einer Schule, die als besonders sicher galt. Der Junge war zuvor wegen aggressiven Verhaltens aufgefallen.

Von Siggi Weidemann

Es war vermutlich ein Racheakt: Vor den Augen seiner entsetzten Mitschüler schoss Murat D., 17 Jahre alt, in der Kantine des Den Haager Terra College seinen Biologielehrer in den Kopf. Gezielt aus fünf Metern Entfernung. "Er hat es getan, ohne ein Wort zu sagen", berichtete der 16-jährige Rachid Henry, der Zeuge der Bluttat war. In der Nacht zum Mittwoch ist der Lehrer und stellvertretende Schuldirektor Hans van Wieren, 49, der Schussverletzung erlegen. Der Schütze hat sich gestellt.

Drei Tage zuvor hatte van Wieren Murat D. beurlaubt und dessen Mutter zum Gespräch bestellt, weil der türkischstämmige Schüler wiederholt aggressiv aufgetreten war. Der Lehrer, so beschreiben ihn Schüler, sei streng, aber gerecht gewesen. Er engagierte sich für sie und hatte stets ein offenes Ohr für ihre Probleme. Schuldirektor Gerard van Miltenburg bezeichnete den Ermordeten als Kollegen, der sich für die Integration seiner Schüler einsetzte und eine große Lücke in der Schulgemeinschaft hinterlässt. Die Fahne auf dem Terra College wehte am Mittwoch auf Halbmast.

Erster Lehrermord in den Niederlanden

Es ist dies der erste Mord an einem Lehrer in den Niederlanden. Parlament, Lehrergewerkschaften und Ministerpräsident Jan Peter Balkenende äußerten Entsetzen. "So etwas darf in unserem Land nie mehr passieren", sagte Balkenende.

Nach Bluttaten an US-Highschools, 16 Toten am Erfurter Gutenberg-Gymnasium und dem Selbstmord eines Schülers in Coburg, der auf Lehrerinnen geschossen hatte, jetzt also Den Haag. "Es ist entsetzlich, dass diese Art amerikanischer Zustände unsere Schulen erreicht hat", sagte ein Abgeordneter.

Die Tragödie trifft mit dem Terra College eine Schule, die erst vor zwei Monaten einen Preis erhielt für vorbildliche Sicherheitsmaßnahmen und Gewaltprävention. Der Schule, die vor allem ausländische Jugendliche besuchen, war der Hein-Roet-hof-Preis zugesprochen worden, weil es gelungen war, das Aggressionsniveau abzubauen und man sich auch um die Sicherheit außerhalb der Schule kümmerte - etwa in Straßenbahnen, in denen Schüler beraubt und Fahrgäste belästigt wurden. Auf das Schulgelände gelangten Personal und Schüler nur mit einem Codepass.

Bei der Lehrergewerkschaft CNV glaubt man, es sei fast alles Menschenmögliche getan worden, um Schulen sicherer zu machen. "Problemschulen" erhielten Überwachungskameras und Zugangsausweise, Bewacher wurden angestellt. Gewalt an Schulen wurde in Holland vor zehn Jahren Thema, als bekannt geworden war, dass zehn Prozent der Schüler Messer oder andere Waffen besitzen. Seither lassen Schießereien, Raub, Messerstechereien, Vergewaltigung und andere Delikte die Öffentlichkeit aufschrecken.

Möglicher Grund für Gewalt: Autoritätsverlust der Lehrer

Eine Studie der Stadt Amsterdam besagt, dass fast 20.000 Schüler sowie 2000 Mitarbeiter an 39 Schulen mit Gewaltdelikten zu tun hatten. Als Ursache nennt der Lehrerverband AOb Autoritätsverlust der Lehrer und dass sich betroffene Schulen in Vierteln mit hohem Ausländeranteil befinden und sozialen Problemen in den Familien. Kritiker werfen Schulleitern vor, sie kehrten Vorfälle unter den Teppich, aus Angst, Prestige und Schüler zu verlieren. So werde der Gewalt Vorschub geleistet.

Der Direktor des Terra College sagte: "Wir können doch aus unseren Schulen keine uneinnehmbaren Festungen machen. Wir haben alles getan, und dann passiert das. Gegen Wahnsinn können wir uns nicht schützen."

© SZ vom 15.1.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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