Frühgeburten:Warum die Schwangerschafts-Uhr zu schnell tickt

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In Deutschland kommt jedes 16. Baby zu früh auf die Welt. Wissenschaftler ergründen, wie es dazu kommt.

Frühgeborene sehen unfassbar zerbrechlich aus. Ihre geballten Fäuste sind so klein wie Walnüsse; ihre Haut ist durchscheinend; Schläuche sprießen aus ihren Körpern, um sie mit Maschinen zu verbinden, die ihnen das Leben außerhalb des Mutterleibs ermöglichen.

In Deutschland kommt jedes 16. Baby vor der 37. Woche anstatt in der 40. Woche auf die Welt. Sie tragen ein erhöhtes Risiko für Missbildungen: Geistige Zurückgebliebenheit, Lähmungen, Probleme mit Lungen und Magen-Darm-Trakt sowie eingeschränktes Seh- und Hörvermögen gehören zu den Folgen der frühen Geburt. "Die medizinischen und nichtmedizinischen Aufwendungen, die mit Frühgeburten einhergehen, übersteigen wahrscheinlich die von jeder anderen Krankheit", sagt Roberto Romero vom National Institute of Child Health and Human Development in Detroit.

Jahrzehntelang haben Wissenschaftler überraschend wenig Erklärungen dafür gehabt, weshalb es mitunter verfrüht zu Wehen kommt. In jedem zweiten bis dritten Fall tragen Infektionen der Gebärmutter dazu bei. Doch in den übrigen Fällen scheint es keinen klaren Grund zu geben. Auch deshalb sind vorzeitige Wehen bisher sehr schwer vorauszusagen, zu verhindern oder zu stoppen.

Das könnte sich in Zukunft ändern. Denn es hat in jüngerer Zeit Fortschritte beim Verständnis der Wehen gegeben. So haben Forscher eine Schwangerschafts-Uhr entdeckt, die durch Stresshormone angetrieben wird. Zugleich werden die molekularen Abläufe der Wehen immer besser verstanden.

Demnach tragen Infektionen und allergische Reaktionen ebenso zum Beginn der Wehen bei wie Hormone, die vom Fötus selbst gebildet werden. Diese neuen Erkenntnisse könnten dazu führen, Medikamente zu finden, die vorzeitige Wehen stoppen. Sie könnten die heute verwendeten Arzneien ersetzen, die Wehen nicht mehr als 48 Stunden hinauszögern können und mitunter schwere Nebenwirkungen haben.

Wehen werden durch veränderte Hormonspiegel ausgelöst, vor allem durch Östrogen und Progesteron. Fast während der gesamten Schwangerschaft produziert die Plazenta einen Überschuss an Progesteron, wodurch sich die Uterusmuskulatur entspannt. Wenn sich der Körper aber auf die Geburt vorbereitet, wird vermehrt Östrogen ausgeschüttet.

Dieses Hormon gilt als Gegenspieler des Progesterons und regt die Uterusmuskulatur an. Auch bringt es die fötalen Gewebe, die über dem Muttermund liegen, dazu, weitere Hormone herzustellen. Diese Hormone, die Prostaglandine, machen den Muttermund weicher, indem sie die Produktion von Enzymen anregen, welche die Kollagenfasern des Muttermunds verdauen.

Mitte der 90er-Jahre haben Roger Smith und seine Kollegen von der University of Newcastle in Australien eine "Plazenta-Uhr" entdeckt, die die hormonellen Veränderungen steuert. Sie fanden heraus, dass die Konzentration eines Plazentaproteins namens Corticotropin-Releasing Hormon (CRH) während der Schwangerschaft exponentiell ansteigt.

CRH treibt die Östrogenproduktion voran. Dabei ist sein Anstieg so verlässlich, dass die australischen Forscher den Geburtstag eines Babys vorhersagen konnten, indem sie im vierten oder fünften Schwangerschaftsmonat den CRH-Spiegel im Blut seiner Mutter bestimmten. Das Hormon könnte also auch genutzt werden, um Frauen zu identifizieren, die aufgrund ihrer Plazenta-Uhr zu früh gebären werden. Zwar ist der Labortest für CRH derzeit noch zu aufwändig für Routinetests, aber Forscher arbeiten daran.

Mit den Erkenntnissen über CRH versuchen andere Wissenschaftler bereits, frühzeitige Wehen zu verhindern. Sie forschen an CRH-Gegenspielern: Die Substanz Antalarmin zum Beispiel kann zumindest bei Schafen die Geburt hinauszögern. Weitere Forscher versuchen auf anderem Weg in den Hormonhaushalt einzugreifen. Mit Progesteron-Varianten haben sie schon in klinischen Studien an Menschen Frühgeburten verhindern können.

Derweil versuchen Arbeitsgruppen herauszufinden, was zum Anstieg des CRH-Spiegels führen könnte. Schon früher wurde über genetische Ursachen spekuliert und über Stress - denn CRH ist auch Teil der Stressantwort des Körpers. Aber es gibt bisher wenig Belege für diese Ideen. Dafür haben John Challis und seine Kollegen von der Universität von Toronto im vergangenen Jahr nach Studien an Schafen eine andere Erklärung vorgeschlagen: Schlankheitskuren.

Gefährliche Diät

Den kanadischen Forschern fiel auf, dass Schafe sehr häufig Frühgeburten hatten, wenn sie 60 Tage vor der Empfängnis bis 30 Tage danach auf Diät gesetzt waren. Offenbar produzierten Hirnanhangdrüse und Nebennieren der unterernährten Föten zu viele Stresshormone, und die Muttertiere stellten zu viel Cortisol her, was durch CRH vorangetrieben wird.

Der Cortisol-Überschuss löste vermutlich die Wehen aus, so die Wissenschaftler. Zudem war schon früher gezeigt worden, dass die Plazenta von mangelernährten Schafen nicht genug Progesteron produziert. Wenn diese Zusammenhänge auch für Menschen zutreffen, hätte das Challis zufolge "enormen Einfluss" auf Frauen, die schwanger werden möchten: Diäten vor der Schwangerschaft "könnten das Risiko für Frühgeburten erhöhen", sagt er.

Auch entzündliche Prozesse spielen eine Rolle. So zeigte der Pharmakologe Robert Garfield vom University of Texas Medical Branch in Galveston zusammen mit Roberto Romero, dass jedes dritte Meerschweinchen vorzeitig gebar, wenn man bei ihm einen allergischen Schock auslöste. Allergie-Blocker wie Histamin-Rezeptor-Antagonisten verhinderten dagegen die Frühgeburt. Die Daten, so die Autoren, "liefern den ersten experimentellen Beleg dafür", dass zumindest manche Typen von allergischen Reaktionen vorzeitige Wehen auslösen können.

"Ich bin optimistisch, dass wir die verschiedenen Teile des Puzzles in den nächsten fünf Jahren zusammensetzen können", sagt Roger Smith aus Newcastle. Erst einmal bleiben die meisten Fragen allerdings offen. Smith: "Im Grund verstehen wir immer noch nicht, wie wir geboren werden."

Ingrid Wickelgren

Dieser Bericht ist im Original in der aktuellen Ausgabe des internationalen Wissenschaftsmagazins Science erschienen, das die AAAS herausgibt.

Deutsche Bearbeitung: Christina Berndt

© SZ vom 6.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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