Forschung:Die Welt aus Sicht einer Fliege

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Im kalifornischen La Jolla belauschen Forscher das Gehirn des Insekts - ob Drosophila wohl nachts von duftenden Bananen träumt?

Von Hubertus Breuer

Lautlos schwirrt die Fruchtfliege durch die Luft, angezogen von einem gelb leuchtenden Streifen, der verlockend nach Banane duftet. Die stockfinstere Nacht ringsumher stört das Insekt kaum. Auch dass der Flecken einer Banane kaum ähnelt, dämpft den Enthusiasmus vorerst nicht.

(Foto: Foto: dpa)

Allein der stählerne Draht, der mitten in sein winziges Gehirn ragt, lässt es nicht von der Stelle kommen. Und so ermüdet das Verlangen doch irgendwann. Dann sinkt das Insekt in dem dunklen Zylinder, in dem es hängt, allmählich in den Schlaf. Die mikrodünne Spitze inmitten der Nervenzellen zeichnet die Gehirnaktivität des Insekts auf. Wie Wellen am Strand laufen die Erregungsmuster langsam aus. Ähnlich wie beim Menschen, wenn er sich zur Ruhe begibt.

Wissenschaftler hielten Insekten traditionell für dumpfe Automaten, die nur von Reflexen gesteuert ihr kurzes Leben durcheilen. Doch die Zeiten wandeln sich. Seit Forscher mit den Methoden der Neurobiologie erkunden können, was Fruchtfliegen durch ihre punktgroßen Köpfe geht, weiß man, dass deren Neuronen nicht nur mechanisch vor sich hinrattern.

Die Fliege verfolgt die Welt vielmehr aufmerksam und jagt allem hinterher, was ihr Herz begehrt. Und wenn sie schlummert, träumt sie vielleicht sogar.

Der Flugsimulator, in dem gelbe Streifen mit Bananenaroma das Insekt kirre machen, steht in dem Labor von Ralph Greenspan und Bruno von Swinderen am Neurosciences Institute in La Jolla, Kalifornien. Der Raum ist kaum größer als eine Abstellkammer. Die Fliegen begnügen sich mit verstöpselten Reagenzgläsern als Behausung, auf deren Boden sie eine nahrhafte Paste am Leben hält.

Rechts hängt eine bunte Schautafel an der Wand, die erläutert, wie Insekten optische Reize verarbeiten. Am Mikroskop gegenüber führt der junge van Swinderen gekonnt eine Elektrode in den Kopf des Insekts ein. Noch vor wenigen Jahren hielt man solche Untersuchungen für unmöglich, das Gehirn der Fruchtfliege für viel zu klein. Das lässt van Swinderen heute nur noch grinsen. "Wir haben es einfach ausprobiert", erklärt er kokett, während er die Nadelspitze bei einem Blick durchs Okular lenkt. "Und es hat auf Anhieb funktioniert." Rechts neben ihm steht der Bildschirm. Macht dieser die Gedanken der Fliege sichtbar?

"Primitive Form der Aufmerksamkeit"

Derart flapsig auf das diffizile Experiment angesprochen, reagiert Greenspan, der seinem Postdoktoranden neugierig über die Schulter blickt, doch etwas ungehalten. "Von Gedanken kann keinerlei Rede sein", stellt der angesehene Forscher kategorisch fest. "Wir wissen noch nicht einmal, ob Fliegen überhaupt ein echtes Bewusstsein haben - wir haben bisher allenfalls eine primitive Form der Aufmerksamkeit entdeckt."

Mit seinen Fingern deutet er auf die ausgedruckten Kurven eines Elektroenzephalogramms (EEG), die Elektroden zwischen den Pilzkörper genannten Bereichen des Fliegengehirns aufgezeichnet haben. Die Wellenlinien registrieren die Neuronenaktivität fast des ganzen Gehirns, nicht zuletzt, weil die Bahnen sämtlicher Nervenzellen das angestochene Areal kreuzen.

Wann immer die Wissenschaftler die Fliege mit dem leuchtenden Duftstreifen konfrontierten, konnten sie beobachten, wie verschiedene Hirnareale, die sonst kakophonisch in diversen Frequenzen schwingen, sich alle bei 20 bis 30 Hertz einpendelten. "Diese Synchronisierung ist eine neuronale Koordinierung angesichts des Stimulus - gesteigerte Aufmerksamkeit, kein Gedanke."

Obwohl Geruchsneuronen und optische Nervenzellen dabei in keinem direktem Kontakt stehen, verstärkt der Bananengeruch das Interesse für den gelben Strich. Das deutet darauf hin, dass eine höhere Instanz die Wahrnehmung koordiniert. Damit haben Greenspan und van Swinderen nicht nur ein überraschendes kognitives Talent im Kopf der Drosophila melanogaster entdeckt. Mit den Schaltkreisen der Aufmerksamkeit haben sie auch einen zentralen Baustein jeglichen Bewusstsein gefunden.

Ständig strömen ungezählte Daten aus der Umwelt auf die Menschen ein, von denen diese nur die wenigsten wahrnehmen, etwa die Zeile eines Zeitungsartikels. Den Rest - mögen es Verkehrsgeräusche, Fliederduft oder Sonnenwärme sein -, blendet der konzentrierte Geist weitgehend aus. Bei Fliegen ist das nicht viel anders, doch lässt sich der "Aufmerksamkeitsscheinwerfer" hier leichter erforschen. Schließlich ist das Insektengehirn viel übersichtlicher: Es birgt nur 250000 Nervenzellen gegenüber 100 Milliarden beim Menschen.

Auch der Neurobiologe Alexander Borst vom Max Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München sieht die Welt manchmal aus der Fliegenperspektive. Mit seinem Team fand Borst heraus, wie es das Gehirn einer Schmeißfliege schafft, sein Facettenauge auf ein bewegtes Objekt scharf zu stellen. "Eine Fliege ist nahezu ständig in Bewegung. Deswegen besteht die Kunst für sie darin, ein bewegtes Objekt vor einem sich bewegenden Hintergrund zu erkennen", erklärt Borst die knifflige Aufgabe, die das Insekt bewältigen muss.

Mittels Elektroden und Computersimulation haben die Wissenschaftler herausgefunden, dass zwei Nervenzelltypen zunächst dafür sorgen, dass die wahrgenommene Welt weich gezeichnet wird - sie wird unscharf. Diese Daten verrechnet das Gehirn mit den Informationen jener Neuronen, die für die gezielte Wahrnehmung bewegter Objekte zuständig sind. Dadurch treten Kontraste stärker hervor und das bewegte Objekt erscheint schärfer.

"Was wir beobachten, das ist Fliegenintelligenz"

Das gelingt dem Gehirn übrigens auf besonders ökonomische Weise: Das neuronale Netzwerk besteht lediglich aus drei Zellen. Borst erkennt darin dennoch die Grundlage elementarer kognitiver Fähigkeiten, etwa jene, im Flug in Sekundenbruchteilen geschickt zu manövrieren. "Der Mensch wäre da freilich der falsche Maßstab. Was wir beobachten, das ist Fliegenintelligenz."

Ohnehin rät der Direktor des Neurosciences Institute, der Medizin-Nobelpreisträger Gerald Edelman, zur Vorsicht im Umgang mit derartigen Begriffen. Im Zusammenhang mit seinen Forschungen das Wort "Bewusstsein" überhaupt nur in den Mund zu nehmen, "könnte zu einem drastischen Karriereende führen", meint er. Besser sei es, von "visueller Fixierung" oder gar nur "selektiver Unterscheidung" zu sprechen.

Schließlich ist der letzte gemeinsame Vorfahr von Mensch und Fruchtfliege ein Wurm, der vermutlich weniger als 300 Neuronen aufwies - nicht gerade die beste Voraussetzung, das Verhalten der Fliege im Lichte menschlicher Erfahrung zu deuten. Doch andererseits, spekulieren van Swinderen und auch Greenspan, war womöglich schon damals das Fundament für den Geist gelegt.

Denn erstaunlicherweise fokussieren Mensch und Insekten ihre Aufmerksamkeit auf dieselbe Weise: Sie synchronisieren ihre Gehirnwellen und dadurch andere Eindrücke. "Die Anatomie des Fliegenhirns unterscheidet sich grundlegend von der eines Wirbeltiers", meint Greenspan dazu. "Der funktionale Aufbau scheint sich dagegen sehr zu ähneln."

Die gleichen Schlafgene

Wenn dies bedeuten sollte, dass neuronale Netzwerke nur bestimmte funktionale Lösungen zulassen, dann lassen sich an Fliegen generelle Eigenschaften unseres eigenen Bewusstseins erforschen. So sind in Fliegen, wie Ralph Greenspan bereits 1999 entdeckte, dieselben Gene für den Schlafrhythmus zuständig wie beim Menschen. Da möchte man spekulieren, Fliegen würden womöglich sogar träumen. So weit hergeholt ist das freilich nicht: Greenspan und Swinderen haben herausgefunden, dass die Fliege vor dem Einschlafen mit den Beinen strampelt, was sich aber kaum in der Neuronentätigkeit widerspiegelt. Das Gehirn ist gleichzeitig äußerst rege, nur weiß niemand, was diese Aktivität bedeutet.

Greenspan nennt das unruhige Beinwerk schelmisch "Rapid Leg Movement" als Gegenstück zum "Rapid Eye Movement", das Träume beim Menschen begleitet. Ob die Insekten aber wirklich von Bananenstauden träumen, wissen wir nicht. "Ausschließen lässt es sich nicht", meint Swinderen. "Nur leider müsste uns eine Fliege das wahrscheinlich selbst sagen, damit wir es glauben können."

© SZ vom 5.5. 2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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