Flug MH 370:Die Wut wächst

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Hass und Trauer: Dai Shuqin bei der Demo in Peking. Auf dem Schild steht: "Parteichef Xi Jinping wird uns helfen". (Foto: Greg Baker/AFP)

Vor zwei Jahren verschwand Flug MH370. Seitdem verlangen die Angehörigen der Passagiere Antworten, denn sie glauben nicht an einen Absturz. Zu Besuch bei einer Demonstration in Peking.

Von Kai Strittmatter

Als die SZ Dai Shuqin vor einem Jahr besuchte, da war ihre Schwester ein Jahr verschwunden. Dai sagt bis heute "verschwunden". Sie sagt nicht "abgestürzt". Sie sagt nicht "gestorben". Dai ging es damals nicht gut, sie schlief selten mehr als zwei Stunden die Nacht. Aß kaum. Rauchte wieder. Eine Schachtel pro Tag. Heute, ein Jahr später, sind es drei Schachteln. Die 62-Jährige hat noch einmal zehn Kilo abgenommen. Sie sagt, sie sei nun "verheiratet" mit den Zigaretten, anders komme sie nicht durch den Tag. Und durch die Nacht. "Ich habe Angst", sagt sie. "Ich glaube an nichts und an niemanden mehr. Zu viel ist geschehen."

Das Leben von Dai Shuqin wird beherrscht von jenem 8. März 2014, an dem eine Boeing 777 der Malaysia Air zum Erstaunen der ganzen Welt einfach vom Radar verschwand. 297 Tonnen, verschluckt vom Angesicht der Erde. Letztes Lebenszeichen frühmorgens um 1.19 Uhr, als der Kapitän sagte: "Good night Malaysian 370". Es war die letzte Nacht im Leben von Dai Shuqin, in der sie noch Schlaf fand.

So ist das bei vielen hier in dem Grüpplein, das sich am Dienstagmorgen in Pekings Lamatempel zusammengefunden hat. Manche von ihnen rufen "Enthüllt die politische Verschwörung!", manche tragen ein T-Shirt, auf dem steht: "Die Wahrheit! Wo ist MH 370?" China ist die Heimat von 153 der 239 Menschen an Bord des Flugzeugs. Nirgendwo waren Verzweiflung und Zorn größer als hier. Manche haben resigniert in diesen zwei Jahren, andere haben sich mit Malaysia Air auf eine Entschädigung geeinigt. Wieder andere reichten Klage ein gegen Malaysia Airlines.

Diejenigen, die hierher zum Lamatempel gekommen sind, um zu beten, um zu demonstrieren, die scheinen unversöhnlicher noch als vor einem Jahr. "Solange es auch nur ein Prozent Hoffnung gibt, so lange gebe ich 100 Prozent meiner Kraft", sagt Dai Shuqin. Sie wirkt kaum, als habe sie noch Kraft übrig.

Noch Hoffnung? Die Wahrheit? Eine Verschwörung? "Wir werden belogen", sagt Guan Dongping, eine 72-Jährige aus Tianjin, deren Tochter an Bord war. "Wir wollen Beweise, was mit dem Flieger passiert ist. Ob unsere Angehörigen wirklich im Flieger waren." Sie ist überzeugt: "Meine Tochter lebt noch. Sie sind entführt worden, versteckt an einem geheimen Ort." Nein, nicht alle hier glauben das. Aber 120 000 Quadratkilometer Meeresgrund im südlichen Indischen Ozean wurden abgesucht, von Teams aus Australien, Malaysia, China, England, Frankreich, den USA. Und noch immer nicht die Spur eines Wracks. Das macht es vielen schwer, einen Schlussstrich zu ziehen. Hinzu kommt, dass kaum einer in China den heftig zensierten Parteimedien glaubt. Misstrauen, Zynismus und Verschwörungstheorien haben in diesem Land ein leichtes Spiel.

"Ich habe die Dunkelheit kennengelernt", sagt Dai Shuqin

Die Angehörigen möchten Antworten. Die Regierungen, die in Kuala Lumpur und die in Peking, haben keine. Das kann man verstehen. Was viele nicht verstehen, ist das chaotische Krisenmanagement der Malaysier - und das Verhalten ihrer eigenen Regierung in Peking. Die Angehörigen in China wurden bald nach dem Absturz schon unter Druck gesetzt, bespitzelt, von der Polizei schikaniert. Der Verein der Hinterbliebenen, den sie gründeten, wurde nach wenigen Wochen verboten. Vor dem Lamatempel stehen mehr Uniformierte als Familienangehörige. "Die Regierung ist der Himmel. Die Regierung ist die Erde", ruft Guan Dongping, die Mutter, die noch immer auf die Heimkehr ihrer Tochter wartet, in Hörweite der Beamten. "Die Regierung ist gut, sie liebt das Volk." Ihr Zorn richtet sich, wenn sie laut sprechen, gegen die Regierung Malaysias, gegen die Fluglinie. Wenn man sie abseits der Menge spricht, dann deutet der eine oder andere vielsagend auf den Riegel der Polizisten, die sie beobachten, fotografieren und filmen. Auch Dai Shuqin hält ein selbstgemaltes Schild in die Höhe: "Parteichef Xi Jinping wird uns helfen", steht darauf. Später erzählt sie von ihrer Depression, vom rasenden Blutdruck, der ihr manchmal den Schädel sprengt. Sie erinnert sich an die Zeit vor dem Unglück. "Ich war eine einfache Fabrikarbeiterin, aber ich war glücklich. Ich fühlte mich sicher", sagt sie. Und jetzt? "Ich habe die Dunkelheit kennengelernt."

Dai hat sechs Familienmitglieder verloren: Ihre Schwester und der Schwager waren mit der Familie der Tochter nach Sabah geflogen, Strandurlaub. Und Dai gehört zu jenen Angehörigen, die danach auch einmal festgenommen wurden. Ein anderes Mal zerstörten Polizisten Dais Türschloss, als sie mitten in der Nacht in ihre Wohnung einbrachen. Dai hörte nicht auf, Fragen zu stellen. Noch immer fährt sie jeden Tag mit dem Bus zum Büro von Malaysia Airlines und übergibt dort einen Brief, mehrere Hundert sind es bis heute. Anfangs waren das lange Briefe, voller Anklage und Fragen. Heute schreibt sie nur mehr einen Satz: "Seien Sie human, geben Sie uns unsere Angehörigen zurück."

Dai weiß, dass andere den Kopf schütteln über sie und die anderen hier, die ihren Trost finden in der unwahrscheinlichsten aller Hoffnungen. Sie sagt: "Keiner hat sich je um uns gekümmert. Die malaysische Regierung spricht nicht mit uns, und die chinesische ebenso wenig. Seit zwei Jahren ist das einzige Gegenüber, das sie uns schicken, die Polizei." Sie sagt: "Der Hass in meinem Herzen wächst."

Sie sagt, unlängst habe sie ihre Schwester im Traum getroffen. Die Schwester habe ihr unter Tränen erzählt, sie bekomme nur Sellerie und Bohnensprossen zu essen. Eigentlich wollte Dai Shuqin längst umziehen. "Aber ich kann nicht die Adresse wechseln. Wenn meine Schwester zurückkommt, muss sie mich doch finden."

© SZ vom 09.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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