Fall Morsal O. vor Gericht:Sie wollte nur in Freiheit leben

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Er wollte sie mit Gewalt erziehen, sie wollte sich schminken und Miniröcke tragen: Jetzt steht Ahmad O. vor Gericht - wegen Mordes an seiner 16-jährigen Schwester. Auf der Anklagebank schweigt er.

Jens Schneider

Es ist gegen elf, als die 16 Jahre alte Morsal an diesem Abend im Mai noch einmal zu einem Treffen mit ihrem Bruder Ahmad kommt. Das junge Hamburger Mädchen, das vor mehr als einem Jahrzehnt mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Deutschland kam, ist schon oft vor ihrem sieben Jahre älteren Bruder geflohen. Er hat sie geschlagen. Sie hat wegen der heftigen Prügel Anzeige gegen ihn erstattet.

Weiße Rosen als Protest gegen Gewalt gegen Frauen: Menschenrechtsaktivist vor dem Landgericht in Hamburg. (Foto: Foto: dpa)

Ahmad stört sich daran, dass Morsal ihre eigenen Wege geht. Dass sie Miniröcke trägt und sich stark schminkt wie andere Mädchen in ihrem Alter. Er glaubt, sie mit Gewalt erziehen zu müssen. Gegenüber der Mutter soll er gedroht haben, Morsal umzubringen.

Das Mädchen will, dass die Schläge ein Ende haben. Aber es zieht sie immer wieder zur Familie hin, gerade zu Ahmad. Und an diesem Abend hat er versprochen, dass er nur mit ihr reden will.

Der Wortwechsel, den der Staatsanwalt nun acht Monate später in seiner Anklageschrift zitiert, ist kurz. Der heute 24J ahre alte Ahmad O. habe seine Schwester gefragt, ob sie als Prostituierte arbeite. Sie habe geantwortet, ihn gehe das "einen Scheißdreck" an.

Das Messer hinter seinem Rücken sah sie nicht. 23 mal stach Ahmad O. auf seine Schwester ein. Noch als sie zu fliehen versuchte, ließ er nicht ab. Dann lief er davon. In der nächsten Stunde kämpfte ein Notarzt auf dem Parkplatz am Berliner Tor, nahe dem Hauptbahnhof, vergeblich um das Leben seiner Schwester. Am nächsten Tag ließ Ahmad O. sich ohne Widerstand festnehmen und gestand die Tat.

Weiße Rosen für Morsal

Nun sitzt der schmächtige Mann reglos vor der Großen Strafkammer des Hamburger Landgerichts. Mit dünner Stimme macht er knappe Angaben zur Person, nennt seinen Geburtsort Kabul, und dass er als Import-Export-Kaufmann arbeitete. Sein Anwalt Thomas Bliwier sagt für ihn, dass er keine Angaben zur Sache machen wird.

O. ist des Mordes an seiner Schwester angeklagt. Er habe sie getötet, so der Staatsanwalt, weil sie sich aus seiner Sicht unangemessen gekleidet und von der Familie abgewandt habe. Auch zwei frühere Straftaten wegen Körperverletzung und der Bedrohung gegen Morsal werden ihm hier zur Last gelegt.

Draußen vor dem Gericht steht die Autorin Necla Kelek mit einer Gruppe Frauen und Männer; sie verteilen weiße Rosen zum Gedenken an Morsal O. und an Hatan Sürücü, die 2005 in Berlin von ihrem Bruder ermordet wurde, weil sie sich nicht den traditionellen Vorstellungen ihrer Familie unterwerfen wollte. Die Gruppe fordert, dass endlich mehr zum Schutz von Frauen getan wird, deren Väter oder Brüder mit einem Verbrechen die vermeintliche Ehre der Familie retten wollen.

Im Fall von Morsal O. ist umstritten, ob ihr Tod hätte verhindert werden können. Nach der Tat wurde bekannt, dass das Mädchen mit dem Freiheitsdrang in den Monaten vor ihrem Tod staatlichen Schutz gesucht und gefunden hatte. Aus dem Schutz der Betreuer begab sie sich immer wieder zur Familie zurück. Vom Ende her liest sich die Geschichte ihrer Notrufe wie die Chronik einer vorhersehbaren Katastrophe. Die oppositionelle SPD hat den Hamburger Behörden schwere Versäumnisse vorgeworfen.

Temperamentvolles Mädchen, sozial engagiert

Anfang der Neunziger war zunächst der Vater, dann die Familie aus Afghanistan nach Hamburg gekommen. Vor allem dem Vater, so heißt es, sei es schwer gefallen, sich einzufinden. Als kleines Mädchen nach Hamburg gekommen, fühlt sich Morsal dagegen wie selbstverständlich heimisch.

In der Schule fällt das temperamentvolle Mädchen mit ihrem sozialen Engagement auf. Sie lässt sich zur Streitschlichterin ausbilden, und es wird als Modell für gelungene Integration gefeiert, als sie 2005 mit Mitschülern einen Preis für ihr Engagement bekommt.

Ahmad O. fällt bald durch aggressive Gewalttaten auf. Er bleibt klein, wird mit Wachstumshormonen behandelt, beansprucht aber die traditionell dominante Rolle des ältesten Sohns. Schnell füllen seine Straftaten eine Polizeiakte: Raub, Körperverletzung, man führt ihn als Intensivtäter. Er wird zu Freiheitsstrafen verurteilt, zunächst auf Bewährung. 2006 ruft Morsal zum ersten Mal die Polizei, weil sie geschlagen worden ist.

Das Jugendamt wird benachrichtigt. Immer häufiger alarmiert sie nun die Polizei. Sie sagt auch aus, dass ihre Eltern sie schlagen. Typisch erscheint die Geschichte einer Anzeige vom Januar 2007. Die Polizei nimmt auf, dass Ahmad sie wegen ihrer Kleidung geschlagen haben soll. Einen Monat später will sie dazu keine Angaben mehr machen.

Für einige Monate wird das Mädchen nach Afghanistan gebracht. Sie sollte verheiratet werden, heißt es. Nach ihrer Rückkehr wird sie wieder angegriffen. Der Bruder schlägt sie im Beisein von Polizisten. Kurz vor ihrem Tod kommt sie in ein Haus für junge Mädchen, die Gewalt erlitten haben, ein Land-Idyll Land in Schleswig-Holstein. Aber sie verlässt das Heim und kehrt nach Hamburg zurück. Am Tag, als Morsal stirbt, soll ihr Bruder eine lange Haftstrafe antreten.

Anders als in ähnlichen Fällen sieht die Staatsanwaltschaft keine Verwicklung der Eltern in die Tat. Aber sie geht davon aus, dass Ahmad O. die Tötung gezielt plante. Seine Anwälte fechten den Mordvorsatz an. Er habe aus einem Affekt getötet. Sie sehen ihn zudem als vermindert schuldfähig an.

Gleich am ersten Tag begann der für den Prozess offenbar zentrale Streit um zwei psychiatrischen Gutachten. Eines bescheinigt dem jungen Mann laut Bliwier eine "deutlich unterdurchschnittliche Intelligenz" und eingeschränkte Schuldfähigkeit. Gegen den anderen Gutachter stellte der Verteidiger einen Befangenheitsantrag. Er sieht Ahmad O. als voll schuldfähig an.

© SZ vom 17.12.2008/hai - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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