Eurovision Song Contest:Gracia verliert - der Wettbewerb auch

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Tortillachips-mit-Currysoße-und-Obatzter - die Lieder bei dem Wettbewerb klingen, als würden zwischen Zypern und Norwegen alle Europäer dieselbe Musiksoftware verwenden.

Von Oliver Fuchs

Es kann losgehen. Die Schale mit mexikanischen Tortillachips steht bereit, daneben eine Currysoße oder Tsatsiki oder auch Obatzter, egal, irgendwas zum Reintunken halt. Dazu trinkt man Bier oder italienischen Rotwein oder auch chilenischen oder badischen, vielleicht steht irgendwo noch ein Rest Cola, den man mit einem etwaigen Rest Whiskey oder Wodka oder Likör zusammenrühren kann.

Darauf kommt es ja nicht an. Bei so einem Fernsehabend sind ganz andere Dinge wichtig. Man hat präzise Erwartungen. Man hofft, dass es aufregend wird und schön und auch ein bisschen schrecklich und dass man wieder den Kopf schütteln kann über die europäischen Nachbarn, ihre seltsamen Kostüme und merkwürdigen Lieder. So wie immer.

Bei der Übertragung des 50. Grand-Prix-Finales aus Kiew war es nun so, dass man lange warten musste, also schon recht viele Chips in Tsatsiki getunkt und eine Menge Likör mit Cola zusammengerührt hatte, bis sich das spezielle Grand-Prix-Gefühl einstellte, diese Mischung aus Erstaunen, Gerührtsein und leichtem Grusel.

Mit Startnummer 18 trat eine Gruppe aus Kroatien auf, die Tanzbewegungen waren unkoordiniert, und das Lied war eins dieser Folklore-Pop-Potpurris, die beim Grand Prix immer ankommen - allerdings mit irischen Elementen. Kroatischer Irish Folk, wow!

Kurz danach wirbelte eine Formation aus Bosnien-Herzegowina über die Bühne, drei junge Frauen, die sich "Feminnem" nennen, was weniger nach Eminem klingt als nach Anti-Baby-Pille. Alle "Feminnem"-Mitglieder sind blond und sehen so ähnlich aus wie Paris Hilton, und außerdem versuchen sie, in Gesangsstil und Gesamtästhetik, Abba zu kopieren.

Das ist schwierig, vor allem wenn man so überschaubar talentiert ist. Trotzdem dachte man: Toll, Paris Hilton und Abba und Anti-Baby-Pille und Bosnien-Herzegowina - das passt alles überhaupt nicht zusammen! Das ist totaler Bastard-Pop, Euro-Trash, ein Monster aus Dr. Frankensteins Labor, das ausgebrochen ist nach Bosnien-Herzegowina, wo es nun singend und tanzend von Schützenfest zu Schützenfest zieht. Ziemlich schrecklich. Aber auch sehr rührend.

In dieselbe Kategorie fielen die auf Autofelgen und Ölfässern herumklopfenden Rumänen, der dänische Lehrer für autistische Kinder mit der Reggae-Nummer und natürlich das Duo aus Lettland, das in champagnerfarbenen Glitzer-Smokings ein Anti-Kriegs-Lied beisteuerte und den Text während des Vortrags in Gebärdensprache übersetzte, was nicht nur lustig aussah, sondern auch zu der schönen Erkenntnis führte, dass Europa für alle da ist, auch für die Gehörlosen, die bei dieser Veranstaltung, alles in allem, besser dran waren.

Kurz vor Schluss sagte der deutsche Kommentator Peter Urban: "Da war noch kein schlechter Titel dabei." Stimmt. Man hätte nur gern ergänzt: Ein guter Titel war leider auch nicht dabei. "Mein größter Wunsch ist es", hatte unsere deutsche Kandidatin Gracia vor dem Finale gesagt, "nicht Vorletzte zu werden".

Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Sie wurde Letzte. Das soll nun aber kein Anlass zu Spott und Häme sein. Gracia hat ein professionell produziertes, routiniert arrangiertes Lied gesungen, eins dieser middle-of-the-road-Produkte, wie sie hundertfach am Tag aus dem Classic-Rock-Radio herausquaken, nett, unauffällig, gefällig.

Gracia hätte, wenn sie nicht so nervös gewesen wäre, vielleicht auch auf dem 17. oder neunten oder auch fünften Platz landen können, als deutsche Melissa Etheridge.

Denn es gab nur wenige Ausreißer ins Exzentrische und Bizarre an diesem Abend, die Abba-Paris-Hiltons und Autofelgen-Klopfer waren in der Unterzahl. Gut, mehrere Beiträge, darunter auch der englische und serbisch-montenegrinische, klangen irgendwie türkisch (was auch insofern kurios ist, als der Titel aus der Türkei kaum türkisch klang) - doch das waren die einzigen Überraschungen.

Sonst klang das meiste nach amerikanischem Mainstream, nach turboglobalisierter Musikkultur, nach Total-Egal-Pop, nach Tortillachips-mit-Currysoße-und-Obatzter, jedenfalls so als würden zwischen Zypern und Norwegen alle Europäer dieselbe Musiksoftware verwenden. Und so rauschten mehr als die Hälfte der 24 Titel durch den Kopf wie eine Pflegespülung durchs gewaschene Haar.

Auch der Sieger-Song der Griechin Helena Paparaizou, die Mariah Carey und Jennifer Lopez kreuzte, leider aber so, dass ausschließlich die jeweils schlechten Eigenschaften fusionierten.

Jürgen Meier-Beer, der Grand-Prix-Verantwortliche der ARD, warf hinterher der Musikindustrie vor, sich nicht genügend für den Wettbewerb zu engagieren. "Ein Vorentscheid durch die Zuschauer in Deutschland ist nicht zwingend", sagte Meier-Beer, "die ARD kann auch eigenmächtig einen Titel für das internationale Finale bestimmen".

Meier-Beer ist ein netter Mensch, bestimmt keiner, der gern Drohungen ausspricht. Die Lage ist also ernst. Auch angesichts der sieben Millionen deutschen Zuschauer. Im vergangenen Jahr waren es noch über elf Millionen gewesen.

Wieso aber sollten sich die Musikindustrie und die Zuschauer für einen Wettbewerb engagieren, der, wie man deutlich hören und sehen konnte, ziemlich belanglos ist?

© SZ vom 23.5.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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