Erdbeben in China:Trümmer, aus denen das Gift sickert

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Folgt dem Erdbeben auch noch ein Desaster für die Umwelt? Den Überlebenden der Naturkatastrophe in Sichuan droht neue Gefahr - Säuren und Gase von zerstörten Chemiefabriken verseuchen Wasser und Luft.

Henrik Bork, Renhe/Sichuan

Das Erdbeben hatte er gerade eben überlebt, da kam das Gas. Als hätte es noch nicht gereicht, was in der halben Stunde zuvor mit Jiang Shunjian passiert ist. Als wolle das Schicksal besonders grausam mit ihm spielen.

Ein Mann durchsucht die Trümmer seines zusammengestürzten Hauses. (Foto: Foto: AFP)

Jiang Shunjian, Grundschullehrer im Dorf Renhe, 37 Jahre alt, unterrichtet gerade die sechste Klasse, als plötzlich alle Schüler, Stühle und Tische von einem gewaltigen Erdstoß in die Luft geschleudert werden.

"Erdbeben, raus hier", schreit jemand. Jiang schafft es noch vor die Tür. "Dann ist vor meinen Augen die Schule eingestürzt", erzählt der Lehrer.

In der nächsten halben Stunde gräbt er mit bloßen Händen vier Schüler aus. Zwei leben, zwei sind tot. Einer davon ist sein Sohn, Jiang Han Xu, sechs Jahre alt. Er blutet aus einer Platzwunde am Kopf, doch er lebt. Jiang gräbt weiter, denn er sieht "hier eine Hand, dort einen Fuß aus den Trümmern ragen". Und dann kommt das Gas.

"Rennt ihr denn immer noch nicht?", brüllt irgendwer: "Ammoniak, Ammoniak!" Eine Wolke Giftgas weht aus der Kunstdüngerfabrik "Hongda" herüber. Das Erdbeben hat einen Tank mit 80 Tonnen Ammoniak bersten lassen, einem Grundstoff für die Kunstdünger-Herstellung. Wer das unverdünnt einatmet, stirbt sofort.

Also rennt Jiang Shunjian ein zweites Mal an diesem Tag um sein Leben. Und mit ihm die anderen Überlebenden, so weit sie können und nicht eingeklemmt oder verschüttet sind. Das Dorf Renhe ist zu einem Katastrophengebiet innerhalb der Katastrophenzone geworden.

All dies hat sich am 12. Mai abgespielt, als bei dem großen Erdbeben von Sichuan zwei Chemiefabriken in diesem 120 Kilometer nördlich von Chengdu gelegenen Bergtal eingestürzt sind. Ammoniak ist entwichen und Schwefelsäure in Brand geraten.

Gelb gebeizte Wälder

Jiang Shunjian und seine Schüler rennen auf einen nahegelegenen Berg. Sie können sich in Sicherheit bringen. Die Ammoniakwolke zieht vorbei. Auch jetzt, zehn Tage nach dem Beben, lässt der Weg sich genau erkennen, den sie genommen hat. Dafür genügt es, der gelben Schneise zu folgen, den das Gas in die sonst grünen Wipfel des Tals gebeizt hat.

Am 12. Mai treibt die Wolke etwa 1000 in Panik flüchtende Menschen vor sich her. Sie erreicht das kleine Dorf Zujiaqiao. "Alle Blätter meines Gingko-Baumes haben sich schlagartig gelb gefärbt", sagt Wu Jianghong, der Dorfbürgermeister, ein kleiner, drahtiger Mann.

Das Ammoniak habe in den Augen und der Nase gebrannt, berichtet er, auf seinem eingestürzten Haus stehend. "Wir haben uns feuchte Handtücher vor den Mund gepresst und sind weggerannt", sagt der 46-jährige Wu. 15 Stunden lang müssen die Rettungsarbeiten hier unterbrochen werden wegen des Gifts in der Luft.

Das Erdbeben in Sichuan hat rund 50.000 Menschen das Leben gekostet, es hat 250.000 verletzt und fünf Millionen Chinesen obdachlos gemacht. Diese humanitäre Katastrophe steht derzeit im Mittelpunkt der Rettungsmaßnahmen, und sie hat auf der ganzen Welt Entsetzen und Anteilnahme ausgelöst, Unterstützung in Gang gesetzt. Es sind aber auch eine noch unbekannte Zahl von Chemiefabriken zerstört oder beschädigt worden. Das Erdbeben ist, nicht erster Linie, aber eben auch eine Umweltkatastrophe.

Am sechsten Tag nach dem Beben reist Umweltminister Zhou Shengxian aus Peking in dieses Bergtal, um sich ein Bild von der Gefahr zu machen. Später leitet er in der nahegelegenen Stadt Shifang Krisensitzungen. Er fordert zwei Spezialmesswagen aus Peking an.

Der Weg zu den Chemiefabriken führt am Shiting-Fluss entlang in die Berge, vorbei an vielen eingestürzten Bauernkaten. Es ist die Zeit der Weizenernte hier. Die Männer und Frauen arbeiten auf den Feldern, unweit der Ruinen ihrer Hütten. Das gibt einen merkwürdig Eindruck, als sei ihnen die Zerstörung egal. Doch in Wirklichkeit ist es die Armut, die die Menschen dazu zwingt, diese Prioritäten zu setzen. Die Ernte muss eingeholt werden. Sie ist der einzige Besitz, der vielen hier geblieben ist.

Li Chandong, eine junge Bauersfrau in Jeans und grünem Anorak, sitzt auf einem Schemel mitten in ihrem Feld und rupft Knoblauchknollen aus der Erde. Am Haus könne wegen der vielen Nachbeben ohnehin noch nicht gearbeitet werden, sagt sie.

Neben dem Acker ist ein frischer Grabhügel zu sehen. "Meine elfjährige Tochter ist beim Einsturz Grundschule ,Nummer Zwei' von Luoshui gestorben", sagt Li. Ein paar Tränen rollen jetzt über ihr Gesicht, aber sie hört nicht auf zu arbeiten. Die Menschen hier versuchen auf ihre Weise, mit dieser Prüfung umgehen.

Wo das Tal enger wird, zwischen zwei Hügelketten, hat das Erdbeben von den Häusern rechts und links der Straße nur einen Steinbruch übriggelassen. Hier und da ragt ein einsamer Schornstein daraus empor. Das aus Backsteinen gemauerte Eingangstor der Chemiedünger-Fabrik "Hongda" ist ebenfalls unversehrt geblieben.

Es ist 4,70 Meter hoch, so steht es auf einem Warnschild geschrieben. Dahinter liegt der traurige Rest der Fabrik, noch immer qualmend. Vom Eingang aus sieht das alles aus wie ein Schwarz-Weiß-Foto einer Kriegsszene, von dem Tor eingefasst wie von einem weißen Bilderrahmen. Der Verwesungsgeruch erinnert aber an die aktuelle Statistik des Schreckens: 79 Arbeiter der Fabrik sind tot, 23 weitere werden noch vermisst.

Auf der nächsten Seite: eine tickende Zeitbombe aus Chemikalien...

Koreanische Feuerwehrleute finden hier seit Tagen eine Leiche nach der anderen. Eigentlich sind sie als Retter nach China gekommen, nach langem bürokratischem Gezerre am fünften Tag nach dem Beben. "Bedauerlicherweise waren alle 26 Menschen schon tot, die wir bisher finden konnten", sagt Kim Young-Suk, der Anführer des Trupps aus 41 Feuerwehrleuten, zehn Begleitern und zwei Deutschen Schäferhunden.

Zum ersten Mal hat die Volksrepublik nach einer Naturkatastrophe ausländische Retter ins Land gelassen - neben den Koreanern noch aus einer Reihe anderer Länder. Doch die Entscheidung, dies zu tun, ist zu spät gefallen, und die Bürokratie hat ihre Einreise so lange verzögert, bis die Retter kaum noch eine Chance hatten, jemanden zu retten. Nur die russischen Suchtrupps haben bis jetzt eine Überlebende gefunden, am fünften Tag nach dem Beben.

Hätten die Koreaner hier in der Chemiefabrik Überlebende finden können, wenn man sie eher hereingelassen hätte? "Natürlich denken wir das", sagt Kim, und die Männer seiner "119"-Brigade nicken dazu nachdrücklich.

Anfangs aber habe man in Peking Bedenken wegen der vielen Militär- und Nuklearanlagen in Sichuan gehabt, sagen Informanten. Dann haben örtliche Kader selbst die primitive Düngemittelfabrik Hongda wie ein Staatsgeheimnis behandelt. "Wir haben bei unserer Ankunft einen Grundriss der Fabrik verlangt, ihn aber nicht bekommen", erzählt Kim.

"Alle Fische sind tot"

37 chinesische Arbeiter sind auf der Stelle gestorben, als am 12. Mai das Ammoniak aus einem offenen Tank entwich. Ihre Leichen lagen noch um den Tank herum verstreut, als die ersten chinesischen Feuerwehrleute eintrafen.

Die Koreaner haben dann noch eine total verätzten Körper gefunden, der in einem Kanal neben dem Ammoniak-Tank lag. "Auch dieser Mann ist von dem ausströmenden Gas getötet worden", sagt Kim. Einer der Koreaner hat hier immer einen Gasdetektor in der Hand. Zur Sicherheit.

Im Regen liegen weiße Säcke voller Kunstdünger in den Überresten der Fabrik verstreut, auch unten am Ufer des schmalen Shiting-Flusses. Bei den Löscharbeiten kurz nach dem Beben sind viele Chemikalien weggespült worden. "Alle Fische im Fluss sind tot, und wir dürfen das Wasser nicht mehr trinken", sagt Wu Jianghong, der Dorfbürgermeister.

10.000 Soldaten der Volksbefreiungsarmee sind inzwischen in dieses verseuchte Bergtal eingerückt. Einige versuchen von hier aus, bislang noch abgeschnittene Bergdörfer zu erreichen. Andere haben mit Schaufeln und Spitzhacken begonnen, die Schutthaufen abzutragen. Die chinesische Regierung gibt sich Mühe, das Umweltdebakel unter Kontrolle zu bekommen, selbst während anderswo noch um Menschenleben gerungen wird.

Doch die tickende Zeitbombe der freigesetzten Chemikalien ist auch zehn Tage nach dem Erdbeben noch nicht entschärft. "Das restliche flüssige Ammoniak ist inzwischen weggeschafft worden, aber die Salzsäure und Schwefelsäure warten noch auf Abholung durch Käufer", sagt Wu Renjie, der Vizebürgermeister von Shifang.

"Sie sind sicher, solange es kein starkes Nachbeben gibt", sagt der Kader. Genau gesagt lagern noch 6000 Tonnen Schwefelsäure und 7000 Tonnen Salzsäure in den Ruinen, hat das Umweltministerium bekannt gegeben.

Offenbar traut auch die Zentralregierung der Situation noch nicht so ganz. Jedenfalls haben Chinas Medien so gut wie nichts darüber berichtet, dass Staats- und Parteichef Hu Jintao am 18. Mai die zerstörte Nachbarfabrik "Yingfeng" besucht hat. Auch hier sind giftige Chemikalien ausgetreten. Soldaten sind dort in weißen Schutzanzügen damit beschäftigt, Leichen einzusammeln.

Nur die "China News Agency" hat den Besuch des Spitzengenossen knapp gemeldet, ohne jedoch ein Wort über die Umweltprobleme zu verlieren. Die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua hat die Visite ganz verschwiegen. Dabei wird Hu normalerweise ständig von Kameras begleitet. Die "Transparenz" der kommunistischen Führung, die seit dem Erdbeben zu beobachten ist, findet beim Thema Umwelt schnell ihre Grenzen.

Und die Experten schweigen

Auch anderswo in der Erdbebenzone hat es Chemieunfälle gegeben. Auf dem kleinen Fluss Miancugou in dem bergigen Landkreis Maoxian schwimme eine "dicke Lage Schaum", berichtet ein chinesischer Reporter, der an Bord eines Armee-Helikopters bis in den abgelegenen Ort vordrang.

Drei Tonnen Salzsäure seien ausgelaufen, als der Tank einer Chemiefabrik beim Beben von einem Fels getroffen wurde. Auch dort seien die Bauern in der Umgebung vor dem Wasser gewarnt worden, sagt der Reporter.

Das ganze Ausmaß der von dem Erdbeben verursachten Umweltzerstörung ist noch nicht absehbar. Regierungsexperten nehmen Wasserproben, trauen sich aber nicht, offen zu reden. Unabhängige Umweltschützer, etwa von Greenpeace, können in China nur sehr vorsichtig agieren.

Ein dreiköpfiges Greenpeace-Team reist gerade im Erdbebengebiet umher. Sie haben zwei kleine Chemiefabriken aufgespürt, die das amtliche Produktionsverbot seit dem Erdbeben ignorieren. Die Umweltschützer sind sehr bemüht, ihre Aktionen als "Unterstützung" der chinesischen Regierung zu bezeichnen, um nicht in Schwierigkeiten zu kommen.

Jiang Shunjian, der Grundschullehrer, sitzt drei Kilometer von der Hongda-Düngemittelfabrik entfernt vor seinem Zelt. Sein 76-jähriger Vater Miao Jiakuan sitzt auf einem Hocker neben ihm und stochert in einem Feuer aus Holzplanken. Er verfeuert sein eigenes Haus zum Kochen. Miao konnte nicht schnell genug weglaufen, als am 12. Mai die Ammoniak-Wolke gekommen ist. Das Gas hat ihm die Netzhäute verätzt. Nun ist er fast blind. "Ich sehe tagsüber nur noch Umrisse, als sei alles in Mondlicht getaucht", sagt der alte Mann.

Sein Sohn redet immer wieder von der halben Stunde in den Trümmern der Grundschule, bevor das Ammoniak kam. "Wer weiß, wie viele Kinder wir noch hätten retten können", sagt er. Am 13. Mai, als die Helfer nach 15 Stunden zurückkehren können, finden sie nur noch zehn Kinder. Alle tot.

© SZ vom 23.05.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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