Eine deutsch-amerikanische Karriere:Der Befreier

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Erst deutscher Revolutionär und Helfer bei einem Gefängnisausbruch, dann US-General und Innenminister der Vereinigten Staaten: Der erstaunliche Werdegang des Carl Schurz.

Joachim Oltmann

Die Nacht ist unheimlich still. Plötzlich erhellt das verabredete Lichtsignal eine Dachluke im Gebäude gegenüber, und eine dunkle Gestalt seilt sich langsam die Mauer herab.

Unten begrüßt sie ihren Befreier: "Das ist eine kühne Tat!" Mit dieser kühnen Tat in der Nacht vom 6. zum 7. November 1850 wird der 21-jährige Carl Schurz eine europäische Berühmtheit: Der junge Mann, 1829 in Liblar bei Köln als Sohn eines Lehrers geboren, befreit seinen Freund Gottfried Kinkel aus dem Zuchthaus in Spandau bei Berlin.

Erst drei Jahre zuvor, im Wintersemester 1847/48, hatte Schurz als Student an der Bonner Universität Kinkel kennengelernt, der dort Literatur, Kunstgeschichte und Rhetorik lehrte. Schurz war von Kinkels Persönlichkeit fasziniert und schätzte ebenso die freisinnig denkenden Männer und Frauen, die sich um seinen Lehrer herum gesellten. Es war Vormärz.

Das Signal zum revolutionären Aufbruch kam im Februar 1848 aus Frankreich, und im März beteiligte sich auch der 19-jährige Student an einer Massendemonstration in Bonn, an deren Spitze Kinkel die schwarz-rot-goldene Fahne trug. Vor dem Rathaus sprach der Professor von deutscher Einheit und Größe sowie von der Freiheit und den Rechten des deutschen Volkes, die von den Fürsten bewilligt oder vom Volk erkämpft werden müssten.

Carl Schurz engagierte sich im "Demokratischen Verein" und im Vorstand der Bonner Studentenschaft. Im September 1848 nahm er für sie an einem Kongress in Eisenach teil und besuchte in der Frankfurter Paulskirche die Deutsche Nationalversammlung.

Als im Frühjahr 1849 das Schicksal der von ihr ausgearbeiteten gesamtdeutschen Verfassung auf dem Spiel stand - 28 deutsche Staaten erkannten sie an, aber wichtige Länder wie Österreich, Preußen, Bayern oder Sachsen lehnten sie ab - breiteten sich Aufstände aus.

Auch Carl Schurz und Gottfried Kinkel beteiligten sich am Kampf für die Verfassung, zunächst im Rheinland und dann im pfälzisch-badischen Aufstand. Doch die preußischen Truppen rückten als eiserne Faust der Gegenrevolution unaufhaltsam vor. Ihr letztes Hindernis war die Festung Rastatt.

Schurz befand sich unter den eingeschlossenen Verteidigern in der Uniform eines badischen Infanterieleutnants. Als geborener Preuße hatte er beste Aussichten, nach der Kapitulation der belagerten Festung standrechtlich erschossen zu werden.

Flucht durch einen Abwasserkanal

Ende Juli 1849 flüchtete er jedoch mit zwei Kameraden durch einen unterirdischen Abwasserkanal, gelangte über den Rhein in die französische Freiheit und dann nach Zürich. Er schrieb für deutsche Zeitungen, trieb militärische und historische Studien und lernte Richard Wagner kennen, dessen Musik ihn zeit seines Lebens begeistern sollte.

Gottfried Kinkel indes war von den Preußen ergriffen und zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Im Februar 1850 regte Johanna Kinkel in einem Brief die Befreiung ihres Mannes an; seitdem bereitete Schurz dieses Unternehmen vor. Der steckbrieflich Verfolgte quartierte sich unter falschem Namen in Berlin ein und gewann einen Wärter des Spandauer Zuchthauses als Helfer.

Mit einer Kutsche flüchten Schurz und Kinkel aus Spandau in den mecklenburgischen Hafenort Warnemünde und segeln von hier aus Mitte November 1850 nach Schottland. Während sich die Kinkels in London niederlassen, zieht es Carl Schurz zunächst nach Paris.

Noch teilt er die Hoffnungen der deutschen Flüchtlinge auf eine neue Revolution in Europa. Karl Marx und Friedrich Engels spotten 1852 über die "romantische Befreiung Kinkels" durch "Studiosus Schurz", ein "intrigantes Männlein von großer Ambition und geringen Leistungen". Schurz wiederum erinnert sich an den "Sozialistenführer" Marx, den er im Sommer 1848 in Köln erlebt hatte, als Menschen von "verletzender, unerträglicher Arroganz des Auftretens".

Nach dem desillusionierenden Staatsstreich von Louis Napoleon gegen die Verfassung der französischen Republik im Dezember 1851 suchen Schurz und seine Frau Margarethe in Amerika eine neue Heimat.

Im September 1852 erreichen die beiden, die vor ihrer Abreise in London geheiratet haben, New York und lassen sich später - wie auch Schurz' Eltern und Schwestern - in Watertown im Bundesstaat Wisconsin nieder. Margarethe, aus einer Hamburger Familie stammend, gründet hier 1856 den ersten Kindergarten in den USA.

Ihr Mann beschreibt im Oktober 1852 einer Freundin in Europa eine amerikanische Charaktereigenschaft, der man auch heute wieder die volle Geltung wünscht: "Der Missbrauch des Guten veranlasst den Amerikaner nicht zur Abschaffung dieses Guten; der Missbrauch der Freiheit verlockt ihn nicht zur Beschränkung der Freiheit." In dieser "höchsten Garantie für die Republik" sieht Schurz allerdings "einen schreienden Misston": die Sklaverei im Süden.

Gespannt verfolgt er den heftiger werdenden Streit zwischen Nord und Süd über die Frage der Sklaverei und gesteht seiner Frau, "dass sobald diese Atmosphäre der politischen Handlung mich berührt, das alte Feuer von 1848 wieder frisch und jung durch meine Adern strömt". Er sieht die wahre Aufgabe seines Lebens dort, "wo ich für meine Wirksamkeit einen Blick aufs Allgemeine habe."

1856 schließt er sich der jungen Republikanischen Partei an, die im Unterschied zu den Demokraten entschieden gegen die Sklaverei auftritt. Als Wahlredner unterstützt er Abraham Lincoln, führt ihm wichtige Stimmen der Deutschamerikaner zu. Nach dessen Wahl zum Präsidenten und dem Ausbruch des Bürgerkriegs wirbt Schurz Freiwillige für das Unionsheer an und geht Mitte 1861 als US-Gesandter nach Spanien.

In einer diplomatischen Depesche, in Gesprächen mit Lincoln und als Redner setzt sich Schurz für eine revolutionäre Wende des Krieges ein. Der soll nicht nur um den Erhalt der Union, sondern auch um die Abschaffung der Sklaverei geführt werden. Im September 1862 proklamiert der Präsident die allgemeine Sklavenbefreiung.

Schurz hält es nicht länger in Madrid, er tritt als Brigadegeneral der Freiwilligen in das Heer ein. Über 200.000 Deutschamerikaner beteiligen sich auf Seiten der Nordstaaten am Bürgerkrieg, darunter die ehemaligen badischen Revolutionäre Franz Sigel und Friedrich Hecker. Schurz erlebt schwere Niederlagen auf dem östlichen Hauptkriegsschauplatz mit; erst die Schlacht von Gettysburg im Juli 1863, an der er als Generalmajor teilnimmt, bringt die Kriegswende.

Glücklich, in jener Zeit und in jenem Land zu leben, schreibt Schurz im Oktober einem Jugendfreund: "Die Sklaverei wird aus ihrer letzten Citadelle vertrieben, die beleidigte Würde der Menschennatur gerächt. In dieser Nation, der Summe, dem Amalgam aller civilisirten Nationalitäten, liegt eine Titanenkraft, die sich wie eine Riesenlocomotive der Menschheit vorspannen wird. Das alte Europa wird ihren Zug fühlen."

Nach dem Ende des Krieges und dem Mord an Lincoln im April 1865 hat sein Nachfolger Andrew Johnson die Probleme der Wiedervereinigung zu lösen. In dessen Auftrag bereist Carl Schurz in der zweiten Hälfte des Jahres den besiegten Süden, um Vorschläge zur Wiederaufnahme der ehemaligen Sklavenhalterstaaten in die Union zu unterbreiten. Präsident Johnson, der die alte Herrschaftsschicht im Süden begünstigt, liegt in dieser Frage im Streit mit dem Kongress und hätte Schurz' Bericht nur allzu gerne unterdrückt.

Im März 1869 zieht Carl Schurz, gerade 40 Jahre alt, für den Bundesstaat Missouri in den US-Senat ein, wo er sich als Gegner des republikanischen Präsidenten Ulysses S. Grant profiliert. Im Bürgerkrieg stand Schurz noch unter dem Oberbefehl von General Grant, jetzt bekämpft er die Begünstigung von Parteiangehörigen im öffentlichen Dienst, setzt sich für eine Verwaltungsreform ein, streitet gegen die parteipolitisch motivierte Beschneidung des Wahlrechts ehemaliger Rebellen im Süden und wendet sich gegen die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten beim Kampf gegen den rassistischen Ku-Klux-Klan. Ferner durchkreuzt er die Pläne des Präsidenten, die Dominikanische Republik auf der Karibikinsel Hispaniola zu annektieren.

Schurz stellt den Erhalt des liberalen, republikanischen Rechtsstaats über die Herrschaftsansprüche der etablierten Parteipolitik und strebt 1871 eine neue liberalrepublikanische Partei an. Ihre wichtigsten Forderungen: volle Selbstbestimmung der Staaten und Kommunen, Reform der öffentlichen Verwaltung und Zolltarifreform.

Die Liberalrepublikaner können sich zwar als Partei nicht behaupten, behalten als Unabhängige aber ihr Gewicht in der amerikanischen Politik. Schurz legt es - je nach politischen Inhalten - für Präsidentschaftskandidaten beider Parteien in die Waagschale.

1876 stirbt seine Frau Margarethe; fünf Kinder sind aus der Ehe hervorgegangen. Im selben Jahr unterstützt Schurz den republikanischen Gouverneur von Ohio, Rutherford B. Hayes, im Kampf um die Präsidentschaft. Hayes bestellt ihn nach dem Einzug in das Weiße Haus zum Innenminister der USA. In seinen vier Amtsjahren widmet sich Carl Schurz besonders der Reform der öffentlichen Verwaltung, dem Schutz der Wälder und der friedlichen Integration der Indianer.

1881 scheidet er aus dem Ministeramt aus. Er betreibt historische Studien, arbeitet als Journalist und spielt seine Rolle als Präsidentenmacher. Der Kampf gegen den Imperialismus ist sein letztes Gefecht. Schurz tritt entschieden gegen eine neuentflammte Annexions- und Kriegslust auf, die jetzt durch die Konkurrenz der Großmächte angeheizt wird.

Er wendet sich 1893 gegen den Erwerb von Hawaii und lehnt nach dem amerikanisch-spanischen Krieg von 1898 die Annexion von Puerto Rico und der Philippinen ab - ohne Erfolg. Im November 1898 wird er zum stellvertretenden Vorsitzenden des"antiimperialistischen Vereins" gewählt. Der Politik des Imperialismus hält Schurz den freien Handel, die Freundschaft - und nicht die Rivalität - mit England, die Abrüstung und das demokratische Vorbild der Vereinigten Staaten in der Weltpolitik entgegen.

Der Mann der Tat gibt sich immer wieder als idealistischer Visionär. So auch, als Schurz im März 1855, noch nicht einmal drei Jahre nach seiner Ankunft in der Neuen Welt, in einem Brief an Gottfried Kinkel Deutschland und Amerika für die Zeit nach einem europäischen Umschwung als natürliche Verbündete sieht: "Deutschland ist die einzige Macht in Europa, deren Interessen nicht mit den amerikanischen in Conflict geraten, und Amerika ist die einzige Macht in der civilisirten Welt, die auf ein starkes vereinigtes Deutschland nicht eifersüchtig zu sein braucht." Für das preußisch-deutsche Reich, das der Zeitgenosse Bismarck geschaffen hat, wird dies leider nicht zutreffen.

Mit ihm führt Carl Schurz, der seit Anfang der sechziger Jahre wieder nach Preußen einreisen darf, im Januar 1868 anregende Gespräche. Der preußische Ministerpräsident, seit kurzem auch Kanzler des Norddeutschen Bundes, weiß seinen Gast zu umgarnen: Die Befreiung Kinkels habe ihm Spaß gemacht, er sei zwar kein Demokrat, aber Preußen ein treuer Freund Amerikas. In einem Brief an Kinkel zeigt sich Schurz beeindruckt von der Energie Bismarcks und seinen Einheitsbestrebungen.

Die Gründung des deutschen Kaiserreiches begrüßt Schurz 1871 geradezu enthusiastisch in einer Rede vor Deutschamerikanern. Im März 1888 hält er in New York eine Gedenkrede auf den verstorbenen Kaiser Wilhelm I., jenen "Kartätschenprinzen", der 1849 an der Spitze der preußischen Truppen die revolutionären Aufstände in Deutschland niedergeschlagen hatte.

Eine eindringliche Warnung

Schurz erinnert daran, weckt aber eher Verständnis für den Werdegang Wilhelms und hebt dessen Rolle bei der Reichsgründung hervor. Das vereinte Deutschland, so Schurz optimistisch, sei der Wächter des europäischen Friedens. In Bezug auf das Kaiserreich verkennt er allerdings den Mangel an Liberalität.

1888 spricht Schurz in Deutschland wieder mit Bismarck. Und schon im Jahr darauf vermittelt er - wenig geschätzt vom Reichskanzler - im deutsch-amerikanischen Konflikt um die pazifischen Samoa-Inseln. Der Streit kann ohne Krieg beigelegt werden; eindringlich hat Schurz den deutschen Gesandten vor einem Waffengang gewarnt.

Noch im April 1906, einen Monat vor seinem Tod, äußert er sich zu den Aussichten eines Krieges zwischen Amerika und Deutschland. Energisch wendet sich Carl Schurz gegen eine solche Möglichkeit, regt aber vorsorglich einen Schiedsvertrag zwischen den beiden Mächten an. Elf Jahre später befinden sich die Vereinigten Staaten von Amerika und das Deutsche Reich zum ersten Mal im Krieg.

© SZ vom 17.2.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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