Der Fall Maddie:Im Dickicht der Aussagen

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Im Mai verschwindet die drei Jahre alte Madeleine McCann aus einer portugiesischen Ferienanlage. Mittlerweile stehen die Eltern unter Verdacht, aber je mehr Details vorliegen, desto größer wird die Verwirrung.

Alexandros Stefanidis

Seit mehr als einem halben Jahr fahndet die portugiesische Polizei nach der verschwundenen Madeleine McCann. Erst vermuteten die Ermittler, ein internationaler Pädophilenring habe das Mädchen aus der Ferienanlage in Praia da Luz verschleppt. Dann wurde der britische Immobilienmakler Robert Murat verdächtigt. Inzwischen stehen auch die Eltern Kate und Gerry McCann im Zentrum der Ermittlungen.

Madeleine McCann (Foto: Foto: AFP)

Im Mietwagen der McCanns wurden DNS-Spuren entdeckt und an der Jeans der Mutter Leichengeruch. Doch die Indizien hielten einer näheren Überprüfung nicht stand. Das Mädchen sei an einer Überdosis Schlafmitteln gestorben, ein Unfall, lautet eine andere Version. Die Eltern würden sich nun gegenseitig decken, um nicht das Sorgerecht für ihre Zwillinge Sean und Amelie zu verlieren.

Doch Beweise für die Theorien kann die Polizei nicht liefern. Selbst winzige Nebenaspekte in diesem Fall erscheinen als Rätsel. Stellt man alle Aussagen - der McCanns, ihrer Freunde, der Zeugen, der Polizei - der vergangenen sechs Monate gegenüber, drängt sich der Schluss auf, dass der aufsehenerregendste Fall der Kriminalgeschichte wohl niemals gelöst werden wird.

Samuel II, Kapitel 12, Verse 15-19, das Zitat, das Kate McCann angeblich häufig gelesen hat: "Dann ging Natan nach Hause. Der Herr aber ließ das Kind, das die Frau des Urija dem David geboren hatte, schwer krank werden. David suchte Gott wegen des Knaben auf und fastete streng; und wenn er heimkam, legte er sich bei Nacht auf die bloße Erde.

Die Ältesten seines Hauses kamen zu ihm, um ihn dazu zu bewegen, von der Erde aufzustehen. Er aber wollte nicht und aß auch nicht mit ihnen. Am siebten Tag aber starb das Kind. Davids Diener fürchteten sich, ihm mitzuteilen, dass das Kind tot war; denn sie sagten: Wir haben ihm zugeredet, als das Kind noch am Leben war; er aber hat nicht auf uns gehört. Wie können wir ihm jetzt sagen: Das Kind ist tot? Er würde ein Unheil anrichten. David jedoch sah, dass seine Diener miteinander flüsterten, und merkte daran, dass das Kind tot war. Er fragte seine Diener: Ist das Kind tot? Sie antworteten: Ja, es ist tot."

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Das Verhältnis der Eltern zu Madeleine

Kate McCann und Gerry McCann (Foto: Foto: DPA)

Mark Williams-Thomas, Privatdetektiv, der den Fall für das britische Fernsehen verfolgt: "Der portugiesische Staatsanwalt verlangt Kates Krankenakte, um zu erfahren, ob sie früher an einer Depression litt. Dies könnte darauf hinweisen, warum sie Madeleine umgebracht hat. Angeblich soll Kate mit der Erziehung Madeleines überfordert gewesen sein, weil das Kind ein Schreibaby war und sehr viel Aufmerksamkeit benötigte."

Ein portugiesischer Ermittler, Anfang September in der Zeitung Diário de Notícias: "Die Seite in der Bibel von Frau McCann ist stark zerknittert. Das weist darauf hin, dass Frau McCann diese Seite intensiv gelesen hat. Wenn man sich den Inhalt der Passage ansieht, fallen gleich mehrere Parallelen zum Fall auf: 1. Madeleine litt - soweit wir wissen - an einer Kolik, das heißt, das Kind war krank. 2. In den Versen geht es augenscheinlich um den Tod eines Kindes; und 3. geht es um die Art, wie man diese Nachricht dem Vater übermittelt. Soll das alles ein purer Zufall sein?"

Papst Benedikt XVI. während eines Besuchs der McCanns im Vatikan: "Halten Sie weiter an Ihrem Glauben fest, das wird Ihnen Mut und Kraft geben." (Der Vatikan ließ die Fotos der Begegnung des Papstes mit den McCanns von der Homepage entfernen, als Kate McCann zur Verdächtigen erklärt wurde.)

Ein vergessener Verdächtiger

Lori Campbell, Reporterin der britischen Boulevardzeitung The Mirror: "Mir ist Robert Murat gleich aufgefallen. Er fragte ständig nach dem Stand der Ermittlungen. Manchmal sagte er auch, er glaube, das Mädchen sei schon längst tot. Ich habe die portugiesische Polizei auf ihn hingewiesen."

Francisco Pagarete, Robert Murats Anwalt: "Mein Klient ist nur ein Sündenbock. Anfangs hat er sich der Polizei als Übersetzer angeboten und niemand hat ihn beschuldigt - bis eine britische Reporterin mit dem Finger auf ihn zeigte. Heute Morgen hat die Polizei sein ganzes Haus auf den Kopf gestellt, seinen Computer beschlagnahmt, den Garten umgegraben und sogar das Wasser aus dem Pool gelassen. Sie haben nichts gefunden."

Robert Murat, 33, britischer Immobilienmakler an der Algarve, lebt mit seiner Mutter Jenny in der Nähe des "Ocean Club" in Praia da Luz: "Ich kann so nicht weiterleben. Ich bin kein Pädophiler. Ich habe doch selbst eine kleine Tochter. Sie heißt Sofia."

Ein Inspektor der portugiesischen Polizei, der anonym bleiben möchte: "Robert Murat ist nicht mehr im Fokus unserer Ermittlungen. Die Indizien deuten auf eine Täterschaft der McCanns."

Olegário Sousa, Sprecher der portugiesischen Polizei: "Wir sind mehr als 350 ernstzunehmenden Hinweisen aus Belgien, Spanien, Marokko, Argentinien, der Schweiz und Malta nachgegangen.

Alle Spuren haben ins Nichts geführt. Wir gehen nun davon aus, dass das Mädchen bereits tot ist. Die Statistik sagt: Knapp 90 Prozent der Fälle vermisster Kinder haben ihren Ursprung in der Familie und nur neun Prozent der Kinder werden von Unbekannten entführt."

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Die letzten sieben Stunden

Portugiesischer Ermittler in der Zeitung 24 Horas: "Der einzige Beweis, der Madeleine McCann an jenem Tag lebend zeigt, ist ein Foto, das die McCanns am Pool des ,Ocean Club' aufgenommen haben. Das Kameradisplay zeigt 13 Uhr 29. Von da an bis zur Ankunft der McCanns in der Tapas-Bar gegen 20 Uhr 40 liegen sieben Stunden. In dieser Zeit hat niemand außer den Eltern das Kind gesehen."

Mark Williams-Thomas: "Die entscheidende Frage ist: Wo war Kate McCann zwischen der Aufnahme des Fotos um 13 Uhr 29 und ihrer Ankunft in der Tapas-Bar des ,Ocean Club' um 20 Uhr 40? "

Ein portugiesischer Ermittler in der Tageszeitung Diário de Notícias: "Freunde der McCanns sagen, die McCanns hätten Madeleine im Kinderhort des ,Ocean Club' abgegeben. Dafür müsste es schriftliche Beweise geben, denn jeder, der dort sein Kind abgibt, muss sich bei Ankunfts- und Abholungszeit in eine Liste eintragen. Bisher fehlt uns dieser Beweis."

Kate McCann: "Ich wusste sofort, dass sie entführt worden sein muss. Sie wäre nie aus dem Apartment gegangen. Niemals! Nicht ohne ihr Kuscheltier. Und das lag doch auf dem Bett."

Gerry McCann: "Kurz nach zehn hörte ich Kate schreien: Madeleine ist weg. Madeleine ist weg. Jemand hat Madeleine entführt! Ich bin mir sicher: Der Entführer hielt sich bereits in unserem Apartment auf, als ich kurz nach 21 Uhr nach den Kindern gesehen habe. Die Tür zum Kinderzimmer stand offen, obwohl ich sie zuvor geschlossen hatte.

Damals dachte ich mir nichts dabei, vielleicht war Madeleine aufs Klo gegangen oder aufgestanden, um etwas zu trinken. Aber heute kann ich es mir nur so erklären, dass der Entführer bereits dort war. Er hat abgewartet, bis ich das Apartment wieder verlassen hatte, und sich dann Madeleine geschnappt."

Carlos Anjos, Vorsitzender der portugiesischen Polizeigewerkschaft: "Vier Monate nachdem seine Tochter verschwunden ist, vier Monate, in denen er mehrmals von der Polizei befragt worden ist, erzählt Herr Mc- Cann plötzlich in der britischen Presse, er vermute, der Entführer habe sich im Apartment aufgehalten, während er nach seinen Kindern geschaut hat! Wenn er wirklich dachte, es befinde sich jemand im Apartment - warum ging er dann seelenruhig wieder zurück in die Tapas-Bar?"

Die Pressekampagne

Christian Lüdke, Kriminalpsychologe: "Ich denke, dass die Eltern etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun haben. Diese Pressekampagne ist doch abstrus. Eltern, die ihre Kinder verloren haben, stehen meist unter Schock, sind hilflos, verzweifelt und ziehen sich zurück. Aber die McCanns sind schon nach ein paar Tagen gemeinsam joggen gegangen, als ob nichts wäre."

Kate McCann: "Ich mag eigentlich keine Kameras. Ich fühle immer eine Beklemmung, wenn ich in der Öffentlichkeit auftreten muss. Aber ich tue es jetzt für meine Tochter. Die Schuld, in jenem Moment des 3. Mai nicht bei Madeleine gewesen zu sein, wird uns unser ganzes Leben begleiten."

In einer Meinungsumfrage der britischen Zeitung The Sunday Times vom Oktober heißt es: "Nur 20 Prozent der Briten sind von der völligen Unschuld der McCanns überzeugt. 48 Prozent glauben, dass die Eltern etwas mit dem Verschwinden des Kindes zu tun haben."

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