Der "bayerische Hulk":Matador auf der Matte

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Der "bayerische Hulk" erzählt von Knochenbrechern, Halsknackern und dem Echo ferner Siege - und warum der Satz "Ich bin Ehrenmitglied des FC Bayern" absolutes Adrenalin bedeutet.

Roland Schulz

Hoch im Norden ging das Geschäft am leichtesten, da wollten sie ihn schon wegen des Kleiderbügels töten. Er kam mit der aufreizenden Sicherheit eines Mannes zum Ring, der an der Spitze eines großen Gefolges einherschreitet, er trug Lederhose, Trachtenhemd und die bayerische Fahne in der Rechten, das reichte für den ersten Hass.

"Wenn nachts der Mond aufgeht, werde ich unruhig. Wie ein Straßenköter": Günther Wagner hat Trophäen im Zimmer und Siege im Kopf. (Foto: Foto: Regina Schmeken)

In der Linken hatte er den Kleiderbügel. Dann enterte er den Ring und öffnete Knopf für Knopf das Trachtenhemd, quälend langsam, genüsslich, er liebte das. Er zog die Träger der Lederhose herab, da pfiffen sie, er schnalzte den Hosenlatz auf, schon schrieen sie, dann riss er sich das Hemd vom Leib, hängte es peinlich genau auf den Kleiderbügel und den an die Ringseile.

Spätestens jetzt war die Halle nur noch Wut und Flamme, ob Hamburg, Bremen, Lübeck, die Zuschauer wünschten ihm tausend schmerzhafte Tode, am liebsten brüllten sie: Reißt ihm die Eier raus, dem bayerischen Penner. Darauf ließ er sich das Mikrofon geben und sagte: "Grüß Gott." Kleine Pause, dann das Nitroglyzerin. "Ich bin Ehrenmitglied des FCBayernMünchen, und ich will absolute Ruhe haben." Die Reaktionen, sagt er und lacht, könne er aus Anstandsgründen nicht wiedergeben.

Er trägt viele Namen. Im Norden hieß er manchmal Adolf Wagner, dann gab er nicht das Bayern-, sondern das Nazischwein, rund ums Ruhrgebiet trat er als Gustav von Wallner auf, genannt der Würger, in der Schweiz haben sie ihn als den berüchtigten Deutsch-Amerikaner Günther Wagenberger präsentiert und in Jugoslawien als bösen Schweizer Knochenbrecher Gieri Wagner.

Er sagt, sein Name sei Spritzn-Günther oder der bayerische Hulk. Unter diesen Namen sei er eine Legende, landauf, landab, ehrlich wahr. So gehört es sich in seinem Geschäft, das kaum Regeln kennt, außer dieser: Wichtiger als die Wahrheit ist die Wirkung. Er ist Catcher.

Sein Name ist Günther Wagner, er ist 61. So steht es im Pass. Er legt Wert darauf, Catcher genannt zu werden, nicht Wrestler. Wrestling, dieser Verschnitt aus Show und Sport, der vor allem in den USA populär ist und dort in den neunziger Jahren Millionen Zuschauer vor die Fernseher zog, zählt für ihn nicht. Die größten Wrestling-Fans sind Kinder kurz vor oder in der Pubertät, und mehr, findet er, brauche man nicht zu wissen.

"Ich greif' bald wieder an"

Er hat die kleine Wohnung an der Autobahn vor München mit Erinnerungen eingerichtet, überall hängen Eintrittskarten, Plakate, Fotos, auf dem Schrank im Gästezimmer liegen Lorbeerkränze im Staub, aber im Wohnzimmer stehen die Pokale in Pracht: Bayerischer Meister, Deutscher Vizemeister, Europameister.

"Ich bin halt ein alter Haudegen", sagt er. Er spricht oft ungestüm, als wolle er alles schnell erzählen,und weil er manche Vokale nachzieht, stolpert er über die eigenen Worte. Ist schlimmer geworden mit dem Alter. "Besonders wenn ich aufgeregt bin", sagt er. Er ist es. Die Erinnerungen. Da befällt ihn diese Unruhe, steigt die Erregung alter Kämpfe in den Kopf.

Draußen hängt kalt der Nebel zwischen den Hochhäusern, die sie vor mehr als 30Jahren gebaut haben, seither lebt er hier. Drinnen ist es warm, in der Wohnung hängt der Geruch vergangener Zeit.

Er sitzt auf dem Sofa, ein massiger Mann mit strohblonder Mähne, Trainingsanzug, Schlappen an den Füßen, und entsinnt sich, wie er als Bub um den Münchner Circus Krone strich, wenn dort nach dem Oktoberfest die großen Turniere liefen, vier Wochen Catchen, vier Wochen Träume. Auf den Plakaten prangten die Namen der Helden und leider der Zusatz, Einlass werde erst ab 18 gewährt.

Günther Wagner ging zu den Boxern und schlug sich seine Träume aus dem Kopf. Aber einen Schnurrbart wie ein Seelöwe ließ er sich stehen, kaum hatte ein Bart zu wachsen begonnen. Er trägt ihn noch. Plötzlich springt er auf, reißt die Balkontür auf, empfängt die Kälte wie einen alten Freund und zieht den Atem tief in die Lungen.

Als Leistungssportler, sagt er, brauche er viel frische Luft. Erst recht jetzt, da er kurz davor stehe, das Training wieder aufzunehmen. Dann geht er zum Sofa zurück. Er tritt achtsam auf, wegen des Knies. Links sitzt die Arthrose, seinen Körper fühlt er oft nur steif. Nichts, sagt er, was sich durch hartes Training nicht einrenken ließe. Er lacht. Im Gesicht zittert der Seelöwenbart, er ruft: "Ich greif' bald wieder an!"

Seine Träume holten ihn erst wieder ein, da war er Mitte Zwanzig und Feuerwehrmann. Er begann zu ringen und Gewichte zu stemmen, Anfang der siebziger Jahre sprach er bei den Catchern vom Circus Krone vor. Er hatte 90 Kilo Muskeln vorzuweisen.

Sie lachten ihn aus. Junge, sagten sie, was willst du denn hier, du Däumling. Sie ließen ihn Liegestütz machen, bis er kotzte. Dann durfte er mittrainieren. Er lernte schnell, was Catcher können müssen. Die Griffe: Wie man einen Doppel-Nelson legt oder wie die gesprungene Beinschere funktioniert.

Schuft in der Ferne und Held daheim

Das Spektakel: Wie man in der Ferne den Schuft spielt und den Helden zu Hause. Die Tricks: Auf welche Reize das Publikum reagiert, hoch im Norden, tief im Westen. Auch das Saufen lernte er. Und den Umgang mit Zuhältern. Alles, was fürs Geschäft nötig war. Die beste Zeit seines Lebens begann.

Günther Wagner hat sie in Alben konserviert, die helfen, den Überblick zu bewahren, denn alles ist tausend Kämpfe her. Heute macht er zwei bis drei Kämpfe im Jahr. Die Erinnerung verwischt, manchmal passt ein Kampfort nicht mehr zum Gegner oder ein Name fällt ihm einfach nicht mehr ein. Doch nie vergisst er seinen ersten Kampf, 2.Mai 1974. "Es war eine Sensation", sagt er.

Er kämpfte im bayerischen Waldmünchen, "eigentlich eine ganz normale Landpartie". So nannten Catcher Auftritte auf Dorffesten mit landwirtschaftlicher Maschinenschau, bei denen sie die Attraktion waren - starke Männer, gefährlich und von fremden Sonnen gebräunt, die man posaunenzüngig als Matadore der Matte ankündigte.

Meist traten sie in einer Halle an, in der zuvor Traktoren standen, die Umkleide war ein Bauwagen, der Ring eine Zumutung und die Gage ein Witz. An diesem Tag war alles unglaublich. Die Musikanlage schepperte "Einzug der Gladiatoren" von Julius Fucik, unverzichtbares Ritual, mit dem Marsch begann die Parade, bei der die Catcher mit ihrer Kraft protzten, bis jedem klar war: Das sind Männer aus Stahl, fähig, Menschen wie Muscheln zu zertreten. Der Ringsprecher rief die alten Worte: "Erlaubt sind alle Griffe vom Scheitel bis zur Sohle."

Er spricht diese Worte voll Ehrfurcht, seine Stimme stolpert nicht. Dann summt er die schmissige Melodie von Fuciks Marsch. Sie geht ihm gleich in die Glieder, seine Haltung wird aufrecht, er schreitet wieder die Kämpfer jenes Tages ab, von Akim Manuka aus dem wilden Kurdistan bis zu Joschi Molnar, dem ungarischen Meisterringer, gegen den er seinen ersten Kampf hatte. Er verlor. Egal. Wichtig war nur, dass er dazu gehörte.

Er pfeift die Melodie der Gladiatoren. Er spürt jetzt keinen Schmerz mehr , die Jahre sind aus seinen Knochen gefahren, es fühlt sich an wie an jenem Tag, als Günther Wagner erstmals zu den Helden zählte. Er braucht jetzt ein Bier. Er trinkt Weißbier.

Wegen der Mineralstoffe, sagt er, und der Kohlehydrate. Er ist voll Überschwang, ist in die Erinnerung hinein gesprungen wie in ein wohliges Bad. Rasch fliegen die Hände durch Fotos und Zeitungsausschnitte, von Andenken zu Andenken rauscht er und erzählt zu jedem eine Geschichte, die ist wie das Catchen - nicht in allem richtig, aber doch wahr.

Der Programmzettel vom Bodensee, da war er mit Mustafa Shikane, dem Orientmeister, der in einer knappen Hose aus Tigerfell zu ringen pflegte. Eigentlich war Shikane Bordellbesitzer in Hessen. 1982 haben sie ihn im "Crazy Sexy" in Wiesbaden erschossen.

Der "echte" Hulk (Foto: Foto: AP)

Oder die Karte von Mamdouh Farag, dem 137-Kilo-Koloss aus Ägypten. Der besaß ein Kaffeehaus, Oberarme von einem halben Meter Umfang, einen Hang zu Anabolika und eine grotesk große Dogge, der er angeblich die Anabolika zuerst gab, um zu sehen, ob sie wirken. "Lauter Verrückte", sagt Wagner.

Er jagt durch die Zeit. Der schneeweiße 200er Mercedes mit den blutroten Radkappen, mit dem er vorfuhr. Der blaue Bademantel, den er als Heldenumhang herrichtete, indem er am Rücken seinen Namen aufbügelte. Er musste es selbst machen, seine erste Frau hatte sich längst scheiden lassen. Sind so viele Erinnerungen. Manche nur ragen heraus.

Maskottchen der Zuhälter

Wie der Weltcup in Hamburg. 1977, St.Pauli, Heiligengeistfeld, mit Killer Kowalski und René Lasartesse, König der Catcher, der als arroganter Aristokrat auftrat. Günther Wagner hieß damals Adolf Wagner und wurde im Ring mit Pappbechern beworfen, worauf im Publikum Münchner Zuhälter feixend riefen: "Günther, wenn'st gwinnst, kriegst fuchzig Mark."Er hat den Ruf noch im Ohr, fuchzig Mark; einmal hat er gewonnen, da gaben sie ihm hundert.

Er war eine Art Maskottchen der Münchner Zuhälter. Vielleicht ein bisschen mehr. "Das war nur eine Begleiterscheinung, das Milieu", sagt er. Er stottert wieder. Ihm sei es nur um den Sport gegangen. Nur die Spießer hätten das nie kapiert. Die Spießer, die hasse er.

Die Spießer sind für ihn vor allem die Verantwortlichen der Feuerwehr München. Günther Wagner war anfangs seiner Karriere beamteter Brandmeister. Daher sein Kampfname "Spritzn-Günther". Sein Problem war die Uniform. 1977 hatte er es geschafft: Er war Lokalmatador im Circus Krone.

Er spielte den Helden zu Hause, kannte die Tricks, also rief er die Zeitungen an und ließ sich vor der Feuerwache in Uniform mit Schlauch fotografieren. Die Zeitungen waren voller Geschichten von Spritzn-Günther, Münchens stärkstem Feuerwehrmann. Seine Vorgesetzten fanden es nicht lustig. Sie hatten schon seine Tourneen und seltsame Krankheitsverläufe beargwöhnt.

Sie beschlossen, ihn rauszuwerfen, wegen unangemeldeter Nebentätigkeit. Sieben Jahre ging der Prozess. "Dann habe ich gesagt: Leckt's mich am Arsch", sagt er. In Wahrheit stand er davor, zu verlieren.

Er wurde Wirt im "Schwabinger Bierathlet" an der Leopoldstraße. Die Kneipe gehörte seiner zweiten Frau, die Ehe hielt acht Jahre. Und er catchte weiter. Es half ihm, dass im fernen Amerika das Wrestling Erfolge feierte, besonders wegen eines Manns namens Hulk Hogan. Wagner kannte ihn nicht, auch vom Wrestling hielt er nichts.

Dort nannten sie "Brain Buster" und "Body Slam", was er als Halsknacker und Ausheber kannte, überhaupt hatte er das Gefühl, dass die dort nur Clowns spielten. Catcher aber, da ist er überzeugt, sind Artisten.

Verlieren war nicht drin

Eines Tages zeigte ihm jemand ein Bild von Hogan. Es kam ihm sehr vertraut vor. Hulk Hogan hatte 137 Kilo, lange blonde Haare und einen Seelöwenbart, der weltweit wohl berühmteste Wrestler, vielfacher Champion. Spritzn-Günther hatte 117 Kilo. Sonst war alles gleich.

Es war, als hätte er seinen Zwilling gefunden. Fortan nannte er sich bayerischer Hulk. Es war ein Glück. Es brachte ihm mehr Aufmerksamkeit, vor allem als Kampfmaschine auf dem Rummel. Er tingelte mit Boxern über Volksfeste. Er war ein Zugpferd. Für einen Sieg gegen den bayerischen Hulk boten Veranstalter 500 Mark, da standen in Städten mit US-Garnisonen GIs Schlange.

Nie hat einer gegen ihn gewonnen, "sind alle Parterre gegangen", sagt er. Verlieren war nicht drin. Der Verlust wäre von der Gage abgegangen.

Außer seiner Ähnlichkeit mit Hulk Hogan halfen ihm in jener Zeit, da er kein Feuerwehrmann mehr sein durfte, Freunde. Jemand, mit dem er mal eine Flasche Whisky getrunken habe, sei noch lange kein Freund, sagt er. Also habe er kaum Freunde gehabt.

Aber der Karlsruher Hans sei einer gewesen. So nennt er Hans Fretz, in den achtziger Jahren Besitzer des "Leierkasten", des bekanntesten Bordells in München. Er war damals oft im Leierkasten. Es sei eine tolle Zeit gewesen, "wir waren berühmt", sagt er.

Ein Kuss von Dolly Dollar

Er schaltet den Fernseher ein. Der Bildschirm erwacht, aber der Fernseher ist alt, die Bildröhre kaputt. Man müsse warten, bis sie warm werde, sagt er. Er geht derweil ein Bier holen. Dann drückt er die Fernbedienung.

Der Videorekorder springt an, auf dem Bildschirm taucht ein Dekolleté auf, es gehört einer Frau in gewagtem Rock, sie sitzt rauchend neben weiteren Frauen mit aufgezäumtem Ausschnitt, viele Männer sind da, mit geföhnten Frisuren, alle blicken auf einen Boxring. Dann setzt Musik ein.

Der Einzug der Gladiatoren. "Die Nacht der starken Männer", sagt Günther Wagner stolz. Oktober 1985. Hans Fretz hatte geladen, und sie waren alle gekommen, tausend Jahre Knast, der Pschorr-Keller war voll sperriger Männer in schillernden Anzügen, "alles Halbwelt". Der Rest der Zuschauer war von der Kripo, sagt er. Er lacht. Schmarrn, sagt er, war ja auch Prominenz da. Er meint die Frau im gewagten Kleid. Dolly Dollar. Schauspielerin. Drehte Filme wie "Dirndljagd am Kilimandscharo".

Außer ihr waren ein paar weniger prominente Schauspielerinnen und ein paar prominente Anwälte gekommen. Die Boulevardpresse vermeldete die Anwesenden und dass im Leierkasten "acht Mädchen Notdienst" hätten leisten müssen, weil "30 Mädchen ihren Boss anfeuerten". Hans Fretz kämpfte selbst.

Von Günther Wagners Kampf, er gewann eine Europameisterschaft, brachten die Zeitungen nichts. Aber es genügt ihm, dass Dolly Dollar ihm den Pokal überreichte, mit Küsschen, und dass er den Beweis auf Video hat. "Wahnsinn, oder?", sagt er.

Das Video hat ihn aufgepeitscht. In wilder Folge legt er Videos ein, lauter Beweise, Catchen in Bierzelten, Kneipenkellern, Stadthallen, wieder und wieder der Einzug der Gladiatoren, Spritzn-Günther fegt die Gegner um, flicht sie in Ringseile. Es ist wie ein Taumel, und immer hat er noch ein Video. Es ist tiefe Nacht, als er vom Rekorder ablässt. Wie ausgelaugt hängt er im Sofa.

Schließlich steht er auf, geht zum Fenster, kehrt zurück, geht wieder zum Fenster. "Wenn nachts der Mond aufgeht", sagt er, "werde ich unruhig. Wie ein Straßenköter."

In guten Nächten schiebt er das auf sein Sternzeichen Wassermann und geht schlafen. In schlechten Nächten erklärt er es mit seiner Vergangenheit. Weil er dann, aufgewühlt von der Erinnerung, fest glaubt, dass die Musik noch spielt, das Publikum noch klatscht; weil er dann sogar die Schmach jüngster Kämpfe vergisst, bei denen sie seinen morschen Körper verlachten und "Hartz IV Hulk" riefen; weil er dann, aufgeputscht und wild, gleich in den Ring will.

Er springt stattdessen ins Auto, fährt in die Stadt, die alten Orte suchen, doch die gibt es nicht mehr. Er endet meist in einer bösen Kneipe oder am Hauptbahnhof, da sind die Animierlokale, da kennt er noch ein paar, sind aber nicht mehr viele.

Vielleicht, sagt er, sollte er noch mal rauf in den Norden gehen. Da ging das Geschäft am leichtesten.

© SZ vom 2.2.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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