Das Phänomen Tchibo:Jede Woche eine neue Uniform

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Themenwelten und Konsumkult: Wie es der Hamburger Kaffeeröster Tchibo geschafft hat, die Alltagskultur der Deutschen zu prägen.

Arno Makowsky

Vielleicht liegt das Geheimnis in genau diesem Moment: Du greifst zu und weißt nicht, warum. Denn, ehrlich, wer braucht schon ein Acryl-Malset, auch wenn es 30 Teile hat und nur 12,99 Euro kostet.

Das weiße Jäckchen? Oder doch ein Spielzeug für den Hund? Bei Tchibo findet sich für jeden was. (Foto: Foto: Rumpf, SZ)

Oder "2 Teelicht-Leuchter" mit "möbelschonender Filzunterseite". Kein Mensch braucht das, außer Malern und Lichtscheuen. Warum aber wird ganz Deutschland plötzlich ein Land von Acrylpinslern und Kerzenlicht-Romantikern, wenn ein Kaffeeröster solche Artikel anbietet?

Wie schafft es dieses Unternehmen, dass auf deutschen Spielplätzen von zehn Kindern mindestens sechs mit Hosen, Rucksäcken und Regenjacken der selben Marke herumlaufen? Wie funktioniert das Phänomen Tchibo?

Penetrante Freundlichkeit

Die Suche nach dem Geheimnis führt tief hinein in die Abgründe des deutschen Konsumverhaltens, in die Psychologie des Verkaufens - und geradewegs in die Tchibo-Zentrale im Hamburger Norden, wo das Unternehmen in einem 70er-Jahre-Bau residiert.

In der Eingangshalle lächelt der Firmengründer Max Herz von einem Ölgemälde die Besucher an, und dieses Lächeln ist es, das unterschwellig den gesamten Firmenauftritt bestimmt: Tchibo setzt Kunden wie Mitarbeiter einer penetranten Freundlichkeits-Offensive aus, die einerseits ein bisschen spießig wirkt, andererseits aber, wie Marketing-Menschen sagen, ein "positives Konsumklima" schafft.

Ob in den Katalogen oder beim Internet-Auftritt - alles ist hell und positiv, die Menschen kommen adrett daher in ihren Sweatjacken und Business-Hemden ("ein vorbildlicher Auftritt"), alle sind nett. So sieht Tchibo-Deutschland aus.

Das mit dem positiven Konsumklima sagt übrigens der Marketing-Chef Michael Stoll, dessen genaue Berufsbezeichnung "Marketing Direktor Food & Corporate Branding" lautet.

"In der ganzen Bohne steckt ein Aromatresor"

Stoll ist ein sympathischer junger Mann, der mit Hilfe einer Computer-Präsentation das Erfolgskonzept seines Arbeitgebers erklärt - zum Beispiel, dass die Tchibo-Produkte in nicht weniger als 52000 "Outlets" verkauft werden, also in Filialen und über spezielle Tchibo-Präsentationsregale, die es wiederum in verschiedenen Größen, pardon "Modulen", gibt.

Auch Michael Stoll hat das zuversichtliche Lächeln des Firmengründers im Gesicht. Ständig sagt er Sätze wie: "Unsere Schokolade ist 'ne echte Geschmacks-Explosion!" Oder: "In der ganzen Bohne steckt ein Aromatresor." Das ist die gleiche sprachliche Diktion, die sich auch im Tchibo-Magazin findet, das jede Woche in einer Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren verkauft wird und trotzdem immer gleich vergriffen ist.

In unnachahmlicher Art bedichten die Werbelyriker der Agentur "Scholz & Friends" darin die Tchibo-Produkte. Der Automatikschirm etwa ist "besonders windstabil durch zurückklappbares Schirmdach", das Fashion-Hemd bietet "Kentkragen und Manschetten in softer Qualität", die atmungsaktive Outdoorhose besticht durch ihre "High-Performance-Membran".

Der Soft-Touch-Griff

Es ist diese Mischung aus Schlichtheit und versteckter Sophistication, die Kunden aller Art begeistert: Manche ahmen die Werbesprache sogar im Alltag nach ("Hat dein Handy auch einen Soft-Touch-Griff?") und begreifen den Einkauf bei Tchibo als ironischen Konsumkult. Statistisch besitzt jede deutsche Frau einen Tchibo-BH. In jedem zweiten Haushalt steht ein Tchibo-Spargeltopf.

All das ist kein Zufall. Hinter dem Erfolg steckt kein trendiges Business-Konzept, keine oberflächliche Marketing-Idee. Sondern eine jahrzehntealte Handelstradition, die clever weiterentwickelt wurde.

Oder doch ein Spielzeug für den Hund? Eine bunte Welt, in die ganz Deutschland eintaucht. (Foto: Foto: Rumpf, SZ)

Im Jahr 1949 hatten die Kaufleute Max Herz und Carl Tchilling-Hiryan die Idee, Röstkaffee per Post zu versenden. (Der Name Tchibo setzt sich aus "Tchilling" und "Bohne" zusammen.) Schon in den Fünfzigern richtete man eine Filiale in Hamburg ein, wo die Kunden den Kaffee probieren konnten.

Millionenschwerer Mittelständler

Seit den siebziger Jahren werden in den Filialen auch Gebrauchsartikel angeboten; am Anfang ein Kochbuch, nach und nach drangen Tchibo-Artikel in alle Lebensbereiche vor: in die Küche, ins Bad, ins Büro, in die Freizeit.

Heute lässt das Unternehmen in seinem "Non Food-Bereich" jedes Jahr 1500 Produkte entwickeln und in zumeist riesigen Stückzahlen herstellen. Tchibo macht vier Milliarden Euro Umsatz im Jahr - und bietet nach außen das Bild eines freundlichen Mittelständlers.

Meine weiße Winterwelt

In der Deko- und Fotoabteilung richten sie gerade die Muster-Schaufenster für Weihnachten ein. Grafiker basteln an Layouts für die Kataloge, Dekorateurinnen bringen rote Topflappen in Form und rücken den brandneuen "Schokoladenbrunnen" ins Licht.

"Meine weiße Winterwelt" lautet das Motto der Woche, 52 mal im Jahr erfindet Tchibo eine neue "Themenwelt", in der sich die Deutschen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen möglichst genau wiedererkennen sollen. Im Moment geht es "Mit gutem Stil voran", im Editorial des TCM-Magazins räsoniert die Herausgeberin über das Thema: "Stil hat, wer sich höflich verhält und wer sich in jeder Situation geschmackvoll kleidet."

Das Foto mit dem Musterfenster bekommen alle Filialen der Republik zugeschickt; genau so muss dekoriert werden. Und bevor der Verkauf richtig losgeht, werden die Produkte in 16 Verkaufsstellen getestet - mit drei verschiedenen Preisen. Erst nach diesem Probelauf legen die Tchibo-Manager den endgültigen Verkaufspreis fest.

Im Normalfall dauert es nach der ersten Idee zwei Jahre, bis Thermojacken und Flachbildschirme, Laufsocken und Bratpfannen ihren Weg bis in die Shops gefunden haben.

Dazwischen liegen viele Stationen, zum Beispiel der strenge Blick von Frank Steffens. Der Mann leitet die Abteilung "Qualitätskontrolle", und vermutlich ist er bei den Herstellern weithin gefürchtet. Anders als oft vermutet lässt Tchibo die meisten Artikel von unterschiedlichen Firmen neu produzieren; mindestens 50 Prozent davon in Asien. Das Label "TCM", unter dem die Produkte firmieren, ist keine Firma, sondern bedeutet schlicht "Tchibo-Magazin".

Keine Geschäfte bei mangelhafter Ware

Steffens' Abteilung prüft nun, ob die Prototypen auch funktionieren. Ob die Kerzen korrekt abbrennen, bei welcher Belastung der Kinderstuhl umkippt. Handtaschen werden zerschnitten, um zu sehen, aus welchem Material sie bestehen, jedes Hemd muss mindestens fünf Mal in die Waschmaschine.

Rund die Hälfte aller Modelle gibt Steffens zur Überarbeitung zurück. Sind bei der endgültigen Lieferung von vielleicht 100.000 Exemplaren immer noch Fehler, nimmt sie Tchibo nicht ab. "Nicht unser Problem", sagt Steffens. Für diese hanseatische Kühle ist das Unternehmen in der Branche bekannt.

Vielleicht sollte man, um dem Phänomen gerecht zu werden, noch erwähnen, dass Tchibo trotz des Geschäfts mit den "Non-Food-Produkten" der viertgrößte Kaffeeröster der Welt ist. Jeden Tag werden in Deutschland 28 Millionen Tassen Tchibo-Kaffee getrunken.

Zwei hektische Einkäufer telefonieren täglich mit allen Kaffeeregionen der Welt und haben dabei auf einem Bildschirm die aktuellen Preise im Blick. "Wahnsinn, wieder extreme Schwankungen heute!" Chefeinkäufer Andreas Christmann hat trotzdem gute Laune. Über dem Hemd tragen die beiden braune Schürzen aus Brasilien - und in jeder freien Minute eilen sie in den Nebenraum, um an einem runden Tisch neuen Kaffee zu verkosten.

Ein Pinguin, der fetten Fisch hinunterwürgt

Christmann nimmt einen Löffel voll in den Mund und spuckt ihn gleich wieder aus. "Der ist vorgestern im Hafen angekommen. Schmeckt okay. Aber nichts Besonderes." Das Verkosten ist mit einem unbeschreiblichen Geräusch verbunden. Es erinnert etwas an einen Pinguin, der einen fetten Fisch herunterwürgt.

Welche "Themenwelt" wohl die nächste ist? Welche Order wird Deutschland diese Woche erteilt? Schön sein, ordentlich sein, trendy sein? Kein Zweifel, Tchibo prägt die Alltagskultur mehr als alle Filme, Popstars und schwedischen Möbelhäuser zusammen. Tchibo uniformiert das Land.

Das Geheimnis erklärt der Marketingchef mit einem Lächeln. Bei seiner Präsentation wird eine junge Frau zitiert. Sie sagt: "Ich habe heute Kinderwäsche gekauft, die ist wunderschön und wirklich günstig. Und das Witzige ist: Ich habe gar keine Kinder."

© SZ vom 2.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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