Chinesische Politik:Rückzug aus dem Schlafzimmer

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Paare dürfen ohne Trauschein in China nicht zusammenleben. Doch nun hat die erste Provinz beschlossen, Privates privat sein zu lassen.

Kai Strittmatter

(SZ vom 12./13.07.2003) Bislang hat in China die Regierung vor die Liebe den Behördenstempel gesetzt. "Als Studentin träumte ich immer davon: Mit einem Mann zusammenzuleben, ohne verheiratet zu sein. Wie romantisch!", erzählt die 25-jährige Susan Lin. "Aber seit ich denken kann, habe ich das Wort ,Zusammenleben' immer nur in der Kombination ,illegales Zusammenleben' gehört."

Verbotene Liebe

Als es dann so weit war, und Susan Lin ohne Wissen ihrer Eltern vor einem Jahr heimlich mit ihrem Freund eine kleine Zweizimmer-Wohnung im Pekinger Norden bezog, da hatte dies mit romantischen Studentinnenträumen wenig zu tun: "Ich hatte ständig Angst. Oft klopfte es. Vielleicht war es das Nachbarschaftskomitee, vielleicht die Polizei - ich weiß nicht: Ich habe nie aufgemacht, saß mucksmäuschenstill da." Zu gut war ihr die Geschichte ihrer besten Freundin in Erinnerung, die samt Freund von betrunkenen Polizisten aus ihrer Wohnung geholt, abgeführt und eine ganze Nacht auf der Wache festgehalten worden war: Weil wilde Ehen noch immer strafbar sind in China.

Rückzug aus dem Schlafzimmer

In ganz China? Nicht mehr. Die südostchinesische Provinz Jiangsu holt nun auf mit dem Zeitgeist: Auf Vorschlag der Provinzregierung strich das Parlament von Jiangsu Ende Juni jene Vorschrift des Titels "Strengstes Verbot des unzüchtigen Zusammenlebens von Mann und Frau ohne Trauschein". Ersatzlos und einstimmig. Damit ist die Provinz Vorreiterin - selbst wenn sie nur legalisiert, was viele junge Chinesen in den Städten auch ohne Erlaubnis längst tun.

Die Chinesische Jugendzeitung feierte den Schritt als "Schutz der Privatsphäre" der Bürger und Ausdruck eines grundlegenden "Wandels in der Einstellung der Regierung": Bis vor kurzem habe die in alles ihre Nase gesteckt, "jetzt aber legt man Wert auf Rechtsstaatlichkeit - was vom Gesetz nicht verboten ist, darum hat sich die Regierung auch nicht zu kümmern".

Neue Einsichten

Genau darauf berufen sie sich in Jiangsu: Es gab in China nie ein nationales Gesetz, das die wilde Ehe verbot - die einschlägigen Bestimmungen sind allesamt von lokalen Behörden erlassene Verwaltungs-Vorschriften. Das nun abgeschaffte Verbot in Jiangsu ist ein Jahrzehnt alt, es sollte der Prostitution Einhalt zu gebieten. "Aber man kann doch nicht behaupten, dass ein Paar, das zusammenlebt, automatisch hurt und Drogen nimmt", fasst Sun Rulin die neue Einsicht der Politiker zusammen.

Bedürfnisse der modernen Gesellschaft

Sun ist Chef des Büros für Rechtswesen bei der Provinzregierung, er nennt die alte Regel "absurd". "Mit wem einer zusammenwohnt, wie er wohnt", sagte Sun der Jugendzeitung: "Das alles sind private Entscheidungen der Bürger. Solange einer kein Verbrechen begeht, sollte die Regierung sich heraushalten." Zudem, so Sun, entspreche dies "der Marktwirtschaft" und den Bedürfnissen einer offenen und mobilen Gesellschaft.

Solch aufgeklärtes Gedankengut hat es noch schwer in den meisten Behördenstuben: Ohne Trauschein bekommt ein chinesisches Paar im ganzen Land kein Hotelzimmer, selbst in der Hauptstadt gilt noch das altbackene Zusammenwohn-Verbot. Doch kommt auch aus Peking das eine oder andere ermutigende Zeichen, dass der Gesetzgeber es ernster meint mit den Bürgerrechten - auch wenn im jüngsten Fall erst Grausames geschehen musste.

Gestraft ohne Ausweis

Der junge Grafikdesigner Sun war in Kanton auf dem Weg in ein Internet-Café, als ihn die Polizei anhielt. Seine Aufenthaltsgenehmigung für Kanton hatte er zuhause gelassen: eine Unachtsamkeit, für die er mit dem Leben bezahlte. Chinas Gesetz über "Verwahrung und Rückführung" gibt der Polizei das Recht, jeden "Landstreicher" oder "Bettler" aufzugreifen und in seinen Heimatort abzuschieben - vor Feiertagen werden so regelmäßig hunderttausende Auswärtige und Wanderarbeiter zwangsverschickt. Oft tun die Polizisten es nicht, ohne ihnen zuvor noch "Strafen" abzupressen, oder sie in Lagern mit Zwangsarbeit das Geld für die Rückfahrt abarbeiten zu lassen. Sun erklärten die Polizisten kurzerhand zum "Landstreicher"; es kümmerte sie nicht, dass ein Freund mit Suns Papieren herbei eilte. Als Sun in der Nacht über Schmerzen klagte, verlegten sie ihn in die Polizei eigene Klinik, wo der 27-Jährige von Pflegern und Mitgefangenen zu Tode geprügelt wurde.

Chinas Medien berichteten groß über den Fall und erregten damit solches Aufsehen, dass Peking in einem ungewöhnlichen Schritt entschied, der Polizei die Verantwortung für "Landstreicher" und Papierlose zu entziehen. Von August an sollen die "Ämter für zivile Angelegenheiten" zuständig sein. Die neuen Regeln untersagen ausdrücklich Erpressung, Folter und Zwangsarbeit.

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