Buchstaben-Rätsel:"Brille vergessen"

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Von wegen Sehschwäche: Mindestens vier Millionen Menschen können in Deutschland kaum lesen - obwohl sie eine Schule besucht haben. Nun soll ein hörbares Internetportal Abhilfe schaffen, denn fast jeder dritte Analphabet benutzt den Computer.

Von Marco Finetti

Die Zahl ist hoch und seit Jahren unverändert: Mindestens vier Millionen so genannte funktionale Analphabeten leben in Deutschland. "Das sind Menschen, die zwar die Schule besucht haben, aber dennoch kaum lesen und schreiben können", erläutert Jürgen Genuneit vom Bundesverband Alphabetisierung in Münster.

Hinzu kommen schätzungsweise mehrere zehntausend "primäre" Analphabeten zumeist ausländischer Herkunft, die noch nie lesen und schreiben gelernt haben.

Ob nun sekundärer oder primärer Analphabetismus - das Leben der Betroffenen ist voller Hindernisse. Busfahrpläne bleiben ihnen ebenso ein Rätsel wie Bedienungsanleitungen und Beipackzettel. "Brille vergessen", lautet die Standardausrede, wenn Analphabeten auf Ämtern wieder einmal einen Fragebogen nicht ausfüllen können. Und wenn sie wissen wollen, ob im Kühlregal süße oder saure Sahne steht, hilft oft nur eines: den Becher öffnen und probieren.

Diese Alltagsprobleme werden verstärkt durch berufliche und finanzielle Nöte: 41 Prozent der Lese- und Schreibunkundigen in Deutschland sind arbeitslos, wie eine Umfrage des Bundesverbandes Alphabetisierung zeigt. Jahrzehntelang wurden diese Sorgen und das ganze Thema hier zu Lande ignoriert. Selbst Bildungspolitiker sahen darin nur ein Problem der Entwicklungsländer, in denen die meisten der weltweit mehr als 800 Millionen Analphabeten leben.

Passt nicht zu Land der Dichter und Denker

Analphabetismus in Deutschland, und dazu in diesem Ausmaß - das passte nicht zum Land der Dichter und Denker. Doch seit dieses Klischee durch die Pisa-Studie gründlich zerstört wurde - in der deutsche Schüler erschreckende Leseschwächen zeigten -, beschäftigt der Analphabetismus verstärkt Politiker und Pädagogen.

Über seine Ursachen besteht weithin Einigkeit. "Schulprobleme sind der häufigste Grund", sagt Jürgen Genuneit; zwei Drittel der Analphabeten haben keinen Schulabschluss. Ebenfalls eine wichtige Rolle spielen problematische Familienverhältnisse und Elternhäuser, in denen Fernseher und Computer das Buch völlig verdrängt haben.

Internetportal zum Lernen

Um die Zahl der Analphabeten endlich zu senken, verlangen Pädagogen zum "Weltalphabetisierungstag" an diesem Mittwoch zunächst eine frühere und intensivere Förderung lese- und schreibschwacher Schüler, etwa in den Ganztagsschulen, die derzeit mit Milliardenhilfe des Bundesbildungsministeriums bundesweit ausgebaut werden.

"Vor allem aber brauchen wir mehr Bildungsmöglichkeiten für erwachsene Analphabeten", fordert Jürgen Genuneit; wer hier zu Lande noch einmal lesen und schreiben lernen wolle, könne dies nur in wenigen Vereinen und Volkshochschulen tun.

Die meisten Analphabeten scheuen sich freilich, auch diese wenigen Angebote zu nutzen . Um ihnen Mut zu machen, setzen Alphabetisierungsverband und Volkshochschulen, das Bildungsministerium und die Unesco-Kommission nun auf das Internet. An diesem Mittwoch schalten sie in Berlin ein Internetportal frei, mit dem Analphabeten parallel zu Volkshochschulkursen lesen und schreiben lernen sollen (www.ich-will-schreiben-lernen.de).

Das Netz einzuspannen, ist sinnvoll: Fast jeder dritte Analphabet hat einen Computer und Internet-Anschluss - und benutzt beides bisher hauptsächlich zu Unterhaltungszwecken.

© SZ vom 8.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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