Belgien:Mitten ins Herz

Lesezeit: 2 min

In Brüssel ist ein 17 Jahre alter Gymnasiast von Nordafrikanern ermordet worden. Die Gesellschaft reagiert auf das Verbrechen mit eindrucksvollem Engagement - und vermeidet jede Fremdenfeindlichkeit.

Cornelia Bolesch

Zehn Jahre nach der Großdemonstration gegen den Kinderschänder Marc Dutroux haben am Sonntag in den Straßen von Brüssel erneut viele Belgier gegen einen sinnlosen Mord protestiert und die gemeinsame Verantwortung der Gesellschaft beschworen, ihre Kinder und Jugendlichen zu schützen. Weder politische Plakate noch Transparente waren auf dem Zug erwünscht.

Ermordet: Joe Van Holsbeeck (Foto: Foto: AFP)

Stattdessen trugen einige zehntausend Demonstranten Blumen in den Händen und Fotos, die ein weiches kindliches Gesicht unter einer dichten Haube brauner Locken zeigen. Dieses Gesicht ist seit Tagen in Belgien allgegenwärtig. Es ist das letzte Dokument eines lebensfrohen jungen Menschen von 17 Jahren, der niemals seinen 18. Geburtstag feiern wird.

Joe Van Holsbeeck war ein ganz normaler Halbwüchsiger, Sohn einer bürgerlichen Familie, der in Brüssel aufs Gymnasium ging. Er engagierte sich bei den Pfadfindern, spielte Trompete, Saxophon und Gitarre und beisaß eine eindrucksvolle Sammlung von Comics.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Am Mittwoch vor Ostern aber war er zur falschen Zeit am falschen Ort. Joe stand zusammen mit einem Freund in der Haupthalle des Brüsseler Zentralbahnhofs. Er hatte seinen MP3-Player dabei und hörte Musik.

Plötzlich näherten sich zwei junge Männer. Einer fragte etwas, der andere versuchte, Joe den MP3-Player zu entreißen. Joe wehrte sich. Da stach man ihm mehrfach ein Messer in die Brust. Die Täter rannten davon. Joe starb wenige Stunden später im Krankenhaus.

Überwachungskameras haben den Anfang und das Ende des Dramas festgehalten. Man sieht, wie die beiden Angreifer - es sind Nordafrikaner - , die Halle betreten. Dann sieht man sie, wie sie in hohem Tempo wegrennen. Diese Bruchstücke eines Verbrechens werden seither fast täglich in den Medien verbreitet. Die Qualität der Aufnahmen ist gut. "Jeder, der die beiden Täter kennt, muss sie hier wiedererkennen", sagte ein Polizeivertreter.

Auf den ersten Blick ist der Mord an Joe ein Kriminalfall wie viele andere in einer Großstadt wie Brüssel. Doch das Schicksal des Jungen trifft viele Belgier mitten ins Herz - so ähnlich wie der Mord an einer jungen Türkin in Berlin, so wie der Mordversuch an einem Deutsch-Äthiopier in Potsdam viele Deutsche bewegt, weil die Taten auf tieferliegende Funktionsstörungen in der Gesellschaft weisen.

Zehntausende beim Trauermarsch in Brüssel (Foto: Foto: AFP)

Jeder kann sich in Joes Schicksal und den Schmerz seiner Angehörigen hineinversetzen. Darüber hinaus enthält seine individuelle Tragödie Elemente einer Geschichte, die viele Belgier auch in ihrer eigenen Welt erleben: Sie erzählt von Aggression und Gewalt unter Jugendlichen und von den Spannungen zwischen Besitzenden und Randständigen in einer Einwanderergesellschaft.

Im Fall Dutroux hatte sich der Protest der Bürger gegen das offenkundige Versagen von Justiz und Polizei gerichtet. Diesmal gibt es außer den Tätern niemanden, dem man konkrete Vorwürfe machen könnte. Ähnlich wie im Fall Dutroux aber sind es wieder die Angehörigen des Opfers, die in beeindruckender Selbstbeherrschung dem Protest eine würdige Richtung vorgeben.

"Wir haben keine rassistischen Motive"

Sich selbst und anderen erlauben sie keine primitiven Rachegedanken. Die Eltern von Joe haben darum gebeten, die Tat nicht politisch auszuschlachten. Und Joes Freunde stellten eine Petition ins Internet, die vor fremdenfeindlichen Reaktionen warnt.

"Wir haben keine rassistischen Motive", schreiben sie. "Wir wollen eine bessere Gesellschaft für alle!" Kein Mensch so heißt es weiter, habe "das Recht, über das Leben und die Träume eines anderen zu verfügen". In das große Internet-Kondolenzbuch (www.pourjoe.be) haben sich bis Sonntagmittag mehr als 100.000 Menschen eingetragen.

Auch viele junge Marokkaner sind darunter. Sie zeigen sich erlöst, dass man ihnen nicht mit kollektivem Hass begegnet. In ihrem Freitagsgebet haben die Imame in den belgischen Moscheen die Mörder von Joe aufgefordert, sich zu stellen.

© SZ vom 24. April 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: