Amoklauf an US-Universität:Wie eine Wand aus Ziegeln

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Der Amokläufer Cho Seung-Hui war ein verschlossener junger Mann mit überaus bizarren Angewohnheiten.

Reymer Klüver

In der Rückschau waren die Warnzeichen deutlich, überdeutlich sogar. Jetzt, nach dem Blutbad, scheint es nur allzu zwangsläufig zu sein, dass das kurze Leben des Cho Seung-Hui, dieses stillen, verschlossenen jungen Mannes pfeilgerade auf die Katastrophe zuschießen musste, auf einen Ausbruch enthemmter, gnadenloser Gewalt. Auf den Doppelmord im Nachbarwohnheim und den Amoklauf durch Norris Hall. 33 Menschen mussten am Montagmorgen auf dem Gelände der Virginia Tech University in Blacksburg sterben, weil am Ende niemandem klar war, wie abgrundtief einsam der Junge war, wie gefährlich es in dem 23-Jährigen brodelte.

Mit seinen Zimmerkumpels sprach Cho kaum, ja, sie empfanden ihn als "unfreundlich", als feindselig gar, wie sie bei Larry King, dem Fernsehtalker bei CNN zu Protokoll geben. "Wie eine Wand aus Ziegeln", sagen sie, sei Cho gewesen. In der Mensa aß er stets allein. Keiner hat ihn je auf dem Zimmer besucht. In den Ferien, etwa im Frühjahr, blieb er zurück, während alle anderen nach Hause fuhren oder zum Feiern nach Florida.

Joe Aust hat bis zuletzt Zimmer 2121 in Harper Hall, einem der großen Studentenwohnblocks auf dem weitläufigen Campus der Virginia Tech, mit dem Massenmörder geteilt. Anfangs, sagt er, habe er Cho noch häufig angesprochen, aber nur einsilbige Antworten erhalten. Später habe er nicht einmal mehr geantwortet, sondern nur ins Nichts gestarrt. Cho stand immer früher als die anderen auf, meistens schon um fünf Uhr und setzte sich an seinen Computer.

Imaginäre Freundin "Jelly"

Abends lag er schon um neun im Bett, wenn für andere der jungen Leute das Studentenleben erst so richtig lustig wurde. Musik hat er gehört, meist vom Computer, berichten seine Kommilitonen, harte, dunkle Töne: Led Zeppelin und Nirvana. Manchmal stand er auch mitten in der Nacht auf, fuhr mit dem Fahrrad durch die Gegend.

Wenig hat er geredet. Doch haben die Zimmernachbarn mitbekommen, dass er stets davon träumte, eine Freundin zu haben. "Jelly" nannte er die imaginäre Traumfrau, er wollte von ihr "Spanky" gerufen werden. "Der Typ war komplett verrückt", sagt einer seiner Kommilitonen, der seinen Namen nicht nennen möchte. Er berichtet, dass Cho Mädchen nachgestiegen sei, als sogenannter Stalker Studentinnen aufgelauert habe. Am Mittwoch bestätigt das die Polizei. Zweimal wurde sie von Studentinnen alarmiert, die sich bedrängt fühlten durch E-Mails und Telefonanrufe Chos.

Anzeige erstatteten sie aber nicht, die Sache wurde fallengelassen. Einmal hat ein Bekannter Chos die Uni-Polizei alarmiert, aus Sorge, dass Cho Selbstmord begehen könnte. Cho wurde nach einem Gespräch mit einem Therapeuten der Polizei in die Psychiatrie eingeliefert, aber bald wieder entlassen. Seine Kommilitonen waren nicht die einzigen, denen das bizarre Gehabe des jungen Mannes auffiel. Lucinda Roy, eine Poetik-Dozentin, hatte sogar die Universitätspolizei und den Psychologischen Dienst der Uni alarmiert. Vor anderthalb Jahren war das, nachdem Cho einen Kurs bei ihr besucht hatte und eine Arbeit abgegeben hatte, die sie als "verschleierte Drohung" empfunden hatte.

Die Uni empfahl ihr, ihn rauszuschmeißen oder einzeln zu unterrichten. Sie entschied sich für Letzteres. Dreimal gab sie Cho Einzelunterricht, sie hatte Angst vor ihm. Jedes Mal kam er mit einer Sonnenbrille. "Ich glaube, er hat geweint hinter den dunklen Gläsern", sagt die Dozentin heute. Auch in einem anderen Seminar hatte Cho albtraumartig gewaltgeladene Texte abgegeben. Damals, so berichtet einer der anderen Studenten, hätten sie ernsthaft diskutiert, ob aus Cho ein Amokläufer werden könnte. Einmal blieben die meisten sogar demonstrativ dem Unterricht fern, weil sie sich von Cho bedroht fühlten.

Kryptische Nachrichten

Cho ist der Sohn koreanischer Immigranten und in Centreville aufgewachsen, einem Vorort der Hauptstadt Washington. Seine Eltern waren 1992 in die USA gekommen und haben es geschafft in der neuen Heimat: Sie betreiben eine Reinigung, Chos ältere Schwester hat einen Abschluss an der Renommier-Uni Princeton gemacht. Aber irgendwie muss der Jüngste, ein schmächtiger Brillenträger mit militärisch kurz gehaltenem Haarschopf, bei dem Aufstieg der Familie auf der Strecke geblieben sein.

Nur kryptische Nachrichten hat er hinterlassen. Zwei dreiseitige Pamphlete fand die Polizei in Zimmer 2121. Es sind offenbar keine Rechtfertigungsschriften, von Selbstmord ist nicht die Rede, allerdings davon, dass eine Tat getan werden müsse: "Ihr habt mich dazu gebracht", ist darin zu lesen, so viel erzählen die Ermittler bisher. Wer damit gemeint sein könnte, ist nicht klar. Allerdings wettert Cho gegen die "Reichen und Privilegierten". Keinerlei Hinweis geben die Papiere darauf, warum Cho ausgerechnet in Norris Hall stürmte und dort Jagd auf Studenten und Dozenten machte.

Außer nach den Motiven forschen die Ermittler auch danach, wie Cho an seine Waffen gekommen ist, zwei Pistolen. Eine erwarb er offenbar Anfang Februar bei einer Pfandleihe. Sie liegt an der Hauptstraße des Ortes, schräg gegenüber vom Haupteingang der Uni. Die andere Pistole kaufte er Mitte März in einem Waffengeschäft in der nächstgrößeren Provinzstadt Roanoke. Er musste dafür nur seinen Führerschein vorzeigen. Das reicht aus in Virginia, einem der Bundesstaaten mit den laxesten Waffengesetzen in den USA. Cho muss also über seiner Tat schon eine Weile gebrütet haben. Die Seriennummer der Waffen hatte er weggefeilt.

In letzter Zeit ging Cho ins Fitness-Studio. Und auf den Arm hatte er sich die beiden Wörter "Ismale Ax" tätowieren lassen. Was es bedeuten soll und warum er das tat - auch das bleibt noch eine der vielen offenen Fragen in dem Fall.

© SZ vom 19.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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