Fallschirmspringen:Ein Absturz ohne Beispiel

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Alle Welt kennt Juri Gagarin, aber nur wenige kennen ihn: Der Amerikaner Joseph Kittinger hält seit knapp 50 Jahren den Rekord im Fallschirmspringen.

Bernd Graff

Es gibt Taten, die sind von geradezu erschütternder Klarheit. Eine solche, auch überirdische Tat ist der Weltrekordsprung des Joseph William Kittinger. Der Mann hatte das Zeug zum Superhelden, tat alles, was man dafür tun musste, man ist ihm auch dankbar - und doch wurde er in wenigen Wochen von noch größeren Helden an den Rand der Geschichte, an den Rand des Vergessens gedrängt. Kittinger kennt heute kein Mensch mehr - Juri Gagarin jeder.

Im Rausch der Höhe: Kittinger bei seinem Sprung im Jahr 1960. (Foto: Foto: oh)

Wir befinden uns in den fünfziger Jahren, die Welt ist mehr oder weniger in zwei ideologische Großblöcke gespalten. Der Himmel war das Limit - und Kittinger wollte noch darüber hinaus. Mitte der Fünfziger meldet sich der Amerikaner aus Tampa, Florida, auf der Luftwaffenbasis Holloman in der Wüste von New Mexico. Freiwillig will er an einem Projekt teilnehmen, das den sprechenden Namen "Manhigh" trägt. "Mann" und "Höhe", mehr muss man auch gar nicht wissen. Denn ab jetzt ist alles sehr klar.

Wie ein frühzeitlicher Tiefseetaucher

Kittinger, Jahrgang 1928, soll neue Fallschirmtypen testen. Die Jets der Airforce erreichen damals Höhen von über 20.000 Metern. Was geschieht mit dem menschlichen Körper in extremer Kälte, in so dünner Luft? Was benötigt der Pilot, wenn er in dieser Höhe seinen Jet verlässt? Das wollte man wissen. Also musste Kittinger ran. Vor ihm hatte man Mäuse mittels mit Helium gefüllten Ballons in die Stratosphäre befördert, man wollte wissen, ob ihr Organismus kosmische Strahlenschäden davontrüge. Die Mäuse hielten das irgendwie aus. Gleichwohl: Der Mensch ohne externe Sauerstoffversorgung wird in einer Höhe von 15 Kilometern bewusstlos. Oder erfriert, wenn er keine Schutzkleidung trägt.

Kittinger steigt am 16. August 1960, in seinem speziellen Druckanzug ausstaffiert wie ein frühzeitlicher Tiefseetaucher, in seine luftige Gondel und lässt sich, perfekt eingekapselt, bis auf 31.333 Meter Höhe hinaufziehen. Dort oben sieht er die Krümmung der Erde mit eigenen Augen. Sonst sieht er wenig. Über ihm: alles schwarz. Unter ihm, sehr, sehr tief unter ihm, etwas Weißes, das wie platt getretener Schnee aussieht - die Wolkendecke. Es ist minus 70 Grad Celsius kalt. Da hält man es nicht lange aus.

Kittinger bleibt 12 Minuten. Erstaunlich, vor allem, wenn man weiß, dass sein Handschuh seit Kilometer 13 defekt ist und seine rechte Hand seitdem sehr schmerzvoll anschwillt - bis auf ihre doppelte Größe. Doch dann folgt - an dieser unwirtlichen, schwarz-blau-weißen Grenze zur Erde - das Erstaunlichste, Heroischste, Aberwitzigste. Kittinger steigt aus. Er springt aus der Gondel - ins Nichts. Erst einmal fällt er vier Minuten und 36 Sekunden, nur von einem winzigen Stabilisator-Schirm gebremst, von über 30 Kilometer Höhe auf etwas über fünf Kilometer Höhe. Bei diesem tiefen Fall, dem tiefsten der Menschheit, erreicht er mit 274 Metern pro Sekunde vermutlich Schallgeschwindigkeit. Die Experten sind sich da nicht ganz einig. Sein Hauptschirm öffnet sich, er segelt über neun weitere Minuten zur Erde zurück.

Kittinger, der in Florida lebt, hat mit diesem Sprung einsame Weltrekorde aufgestellt. Längster Fallschirmsprung in der Geschichte, einziger Mensch, der ohne Zusatzgerät Schallgeschwindigkeit erreicht hat. Noch im Mai 2008 ist der Franzose Michel Fournier darin gescheitert, den Weltrekord zu brechen. Seine Heliumballons, die ihn auf 40 Kilometer Höhe bringen sollten, verabschiedeten sich gut gefüllt ohne Piloten in ferne Höhen. Kittingers Rekord hält seit 48 Jahren.

Und doch: Drei Tage nach seiner Ruhmestat schicken die Russen zwei Hunde, Strelka und Belka, mit dem Sputnik 5 in den richtigen Weltraum. Nach 18 Erdumkreisungen in einer Bahnhöhe von 306 bis 330 Kilometer landen sie einen Tag später sicher wieder auf der Erde. Nur Monate später, am 12. April 1961, umkreist Juri Gagarin in 108 Minuten die Erde - damit ist er der erste Mensch im Weltall. Von Kittinger, dem Mann zwischen Himmel und Erde, wird berichtet, dass er nach dem tiefsten Fall der Menschheit gesagt habe: "Der Himmel war fast ganz schwarz, und er war schön anzusehen."

© SZ vom 16.08.2008/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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