Wiesncheck im Weinzelt:Wo der Rausch edel wirkt

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Riesenscampi, Neun-Liter-Champagnerflaschen und der Anwalt von nebenan: Im Weinzelt gibt sich das auserlesene Publikum besonderen Genüssen hin und feiert auch dann noch, wenn der Rest der Wiesn nach Hause geht.

Christian Mayer

Das Mädchen mit den Rosen weiß, wann es romantisch wird und die Zeit gekommen ist für kleine Liebesbeweise. Meist beginnt diese Phase am späten Nachmittag, wenn von draußen die letzten Sonnenstrahlen durch die hohen Fenster fallen und die Gäste in ihren reservierten Mini-Bauernstuben ein wohliges Gefühl der Sättigung verspüren.

Die Riesenscampi, die Austern, der Tafelspitz, die Steinpilz-Ravioli und all die anderen Köstlichkeiten sind vertilgt, der Chablis fließt weiterhin, als ob's kein Morgen gäbe, da kommt das Rosen-Mädchen gerade recht. Mit der Sicherheit einer Artistin bewegt sie sich durch die fröhliche Menge, um die Festgesellschaft mit frischen Blumen zu schmücken.

Oben auf der Bühne verwandeln sich die Musiker der Band "Blechblos'n" in Popstars der Hitparadenära. Ein Wiedergänger von Nana Mouskouri lässt seine schwarzen Haare wehen und stimmt für 2000 Trachtenträger "Weiße Rosen aus Athen" an. Auch Abba feiert auf ähnliche Weise ein umjubeltes Comeback, zwei Sänger im Siebziger-Jahre-Kostüm bereichern die musikalische Anarchie, ehe dann der Schlachtruf der rheinländischen Gäste erklingt: "Viva Colonia".

Biblischer Champagner

Es geht, wie immer, um "das Leben, die Liebe und die Lust", die sich übrigens besonders am hinteren Tresen manifestiert, wo sich stets die Richtigen zusammenfinden, unter dem sprudelnden Einfluss des Schaumweins, den Barmann Wolfgang Tomschky ausschenkt. Inzwischen ist die Sonne unter- und ein Stern aufgegangen, nämlich die bekannte Kitschhymne von DJ Ötzi, von der nicht mal die Anhänger wissen, wie der komische Stern denn nun heißt. Im Zweifel immer so wie die Banknachbarin.

Ein Abend im Weinzelt, das erfordert vollen Körperein-satz, aber auch mentale Stärke. Schließlich bekommt man nur als Teil des vibrierenden Festorganismus eine Ahnung von den Schwingungen, die hier jeden Abend gegen Mitternacht ihren Höhepunkt erreichen - wenn die Högl Fun Band auf die Zielgerade einbiegt, was schon in der Wahl der Titel zum Ausdruck kommt: "Sex Bomb" jagt "Satisfaction", in den vorderen Boxen knallen dazu die Korken aus Neun-Liter-Flaschen, der Champagner trägt biblische Namen.

Die feschen Anwälte und Investmentbanker auf den besten Plätzen sind aus London und Paris eingeflogen, um sich ein wenig gehen zu lassen, nicht ohne zuvor den obligatorischen Besuch in einem führenden Münchner Trachtenge-schäft absolviert zu haben.

Wenn man sich so umsieht in diesem Zelt, das mindestens so aufgebrezelt ist wie seine Gäste, dann kann man sich auch ein wenig wundern. Ist das hier wirklich das größte Bierfest der Welt? Gut, so mancher einheimische Gigolo hat ein Weißbierglas vor der Nase, aber nach 21 Uhr herrscht hier ein strenges Gesetz: Dann gibt es nur noch Wein, der Charakter dieser schon seit den Anfängen des Oktoberfests bestehenden Enklave soll bewahrt werden.

Rausch und Rummel in Stufen erleben

Keine Maßkrüge also, keine verordnete Ruhe nach ein paar Liedern wie in den großen Festhallen, um die aufgeputschten Massen wieder zu beruhigen: Im Weinzelt wird fast ununterbrochen gesungen und getanzt, allerdings überwiegend ohne trunkene Horden aus Reisebussen - die wollen schließlich Oktoberfestbier tanken.

Wer Rausch und Rummel nicht auf brachiale Weise erzwingen, sondern in Stufen erleben will, geht ins musikalischste aller Wiesnzelte, ins Weinzelt. Dort kann man sicher sein, seinen Zahnarzt, seinen Fitness-Trainer, seinen Autohändler, seine Lieblingsmoderatorin und seinen Steuerberater anzutreffen. Wobei der Autohändler gleich mit seinem Niederlassungsleiter gekommen ist, der hier mit seinen Premium-Kunden im Karohemd freundschaftliche Bande knüpft.

Stark vertreten ist im Weinzelt der Typus der leutseligen 38-jährigen Münchnerin, meist wohnhaft in einem teuren Vorort oder in einem luxussanierten City-Appartment mit Dachterrasse. Die Weinzeltnomadin trägt am liebsten ein individuell gestaltetes Dirndl der in Schicki-Kreisen verehrten Designerin Lola Paltinger.

Die klassische Besucherin verfügt in der Regel auch über ein gewisses Maß an Lebenserfahrung; sie hat schon einige folgenreiche Wiesnflirts und manchmal auch die ein oder andere Ehe hinter sich und fällt nicht mehr auf jedes Kompliment rein. Dafür lässt sie sich, der Abend ist ja lang, gerne mit etwas Vino Spumante oder einem Fläschchen Château Maugey auf die Sprünge helfen, sofern der Spender genug Stil hat.

Bei den Männern ist das Spektrum etwas breiter: Es gibt da "urig" verkleidete Berliner, breitschultrige Burschen aus dem Münchner Speckgürtel, die in ihren Landhausstil-Jacken etwa so aussehen wie der Schauspieler Ralf Moeller, wenn er in amerikanischen Filmen einen Bayern spielen muss, aber auch die eher dezent gewandeten Hirschhornknopf-Trachtler, die sich sonst bevorzugt in italienischen Bars oder auf Weinseminaren in der Toskana herumtreiben.

Wie in der Mailänder Scala

Der König im Zelt spricht breiten Pfälzer Dialekt, er umarmt und knufft seine Gäste. Roland Kuffler ist ein volkstümlicher Monarch, vergnügt blickt er auf das ausgelassene Treiben, während sein Sohn Stephan, ein würdiger Kronprinz, von jener Zeit erzählt, als das Weinzelt gar nicht gut lief. "Die ersten zehn Jahre haben wir rote Zahlen geschrieben. Dann ging's langsam bergauf", sagt Kuffler jun., auch in dieser demonstrativen Bescheidenheit ein typischer Wiesnwirt.

Als die Familie 1984 den Sprung in die hintere Festgasse unterhalb der Bavaria schaffte, war unter der Woche im Weinzelt nichts los. Erst wenn die anderen Festhallen um elf schlossen, begann das Geschäft, zu spät. Und dann deutet Kuffler zur Empore, wo die Gäste wie im Opernhaus auf die Bühne unten schauen, dort spielt die Musik: "Ist das nicht herrlich? Wie in der Mailänder Scala!"

Draußen am Reservierungseingang stehen sie wieder Schlange, es wird gedrängelt und geschimpft. Jeder will noch rein, in den Stadl der temporär Glückseligen. Die Rosenverkäuferin ist nach Hause gegangen, die Blumen welken schon dahin. Morgen kommt Nachschub.

© SZ vom 06.10.07 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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