Tschernobyl:"Wütend war ich über die Verharmlosung von offizieller Seite"

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Karin Wurzbacher, Gründungsmitglied der Initiative "Mütter gegen Atomkraft", erinnert sich an die ersten Tage des Tschernobyl-Unglücks.

Ein Interview von Claudia Wessel

Die Wolke aus Tschernobyl steuerte vor 20 Jahren auch auf Bayern zu. Die Menschen wurden von der Situation überrascht. Angesichts der schlechten Informationspolitik gründeten sich zahlreiche Initiativen. Die SZ sprach mit Karin Wurzbacher, Gründungsmitglied der "Mütter gegen Atomkraft".

Nach dem Atomunfall wird die Radioaktivität von Gemüse getestet. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Erinnern Sie sich an den Tag, als die Tschernobyl-Wolke in München ankam?

Wurzbacher: Ja. Wir waren natürlich draußen bei dem schönen Wetter, auch mit den Kindern. Es war ja nichts bekannt. Zwar gab es am 29. April eine Meldung in den Nachrichten, dass dort ein Unfall stattgefunden hatte, aber man sagte ja auch damals, das ist so weit weg und wir werden nicht betroffen sein. Dass es dann doch so war, am 1. Mai, ist halt sehr bedauerlich, weil die Bevölkerung, die ja bei dem schönen Wetter draußen war, in keiner Weise darauf vorbereitet war - und auch nicht gewarnt.

SZ: Wie war Ihre erste Reaktion?

Wurzbacher: Meine erste Reaktion, als ich in den Nachrichten davon hörte, war ,auweia, wenn das zu uns kommt, dann sind wir dem gnadenlos ausgeliefert, dann gibt es im Grunde genommen keinen Schutz'. Als es dann wirklich so war, habe ich erstmal versucht, mich selbst zu organisieren, was meine Kinder betrifft: Dass ich eben im Kindergarten veranlasst habe, dass keine frische Milch mehr ausgegeben wird - mein Sohn war im Kindergarten, einer in der ersten Klasse. Dann hab ich auch durchgesetzt, dass mit den Kindern nicht mehr spazieren gegangen wird. Wir haben auch den Sand ausgetauscht, den Gartenboden abgetragen und solche Dinge gemacht, im eigenen Umfeld.

SZ: Waren Sie damals auch schon wütend?

Wurzbacher: Wütend war ich über die Verharmlosung von offizieller Seite. Ich bin ja nun Physikerin, hab auch mein Diplom in Kernphysik gemacht, ich konnte das also sehr wohl beurteilen. Aussagen, in denen behauptet wurde, es sei nichts los, man brauche nichts zu machen, müsse keinen Sand auszutauschen und brauche keine Schulhöfe abzuspritzen, solche Maßnahmen seien übertrieben, haben mich schon sehr wütend gemacht - ebenso wie die frühe Entwarnung.

SZ: Wann entstand denn der erste Funke für "Mütter gegen Atomkraft"?

Wurzbacher: Das war eigentlich schon ziemlich früh. In Starnberg gibt es eine Montessorischule, dort sind viele Kinder auch aus München und der Region gewesen, weil es diese Schulen ja nicht so häufig gibt. Da gab es eine Gruppe von Frauen, etwa zehn, die gesagt haben, das können wir uns nicht länger gefallen lassen. Wir müssen irgendwas dagegen tun, uns irgendwie zu Wort melden, denn es ist ja ein Unding, gerade die Mütter mit den Kindern so alleine zu lassen. Wir haben dann gesagt, wir machen eine Spontandemonstration am Muttertag am Marienplatz, haben das auch angemeldet und haben sogar schon Unterschriftenlisten für den sofortigen Atom-Ausstieg parat gehabt. Wir haben im Grunde genommen nur per Kontakt und Telefonkette, nach Schneeballsystem, dazu aufgerufen. Wir haben dann unsere Muttertagsblumen symbolisch in einem Strahlenzeichen auf dem Marienplatz abgelegt und es war erstaunlich, wie viele Menschen dort zusammen gekommen sind und wie schnell sich auch diese Unterschriftenlisten gefüllt haben.

SZ: Wie gings weiter?

Wurzbacher: Die Kontaktpersonen, die auf den Unterschriftenlisten standen, haben so viele Anrufe von besorgten Menschen bekommen, vor allem von Müttern, dass das gar nicht mehr zu bewältigen war. Auch unsere Informationszettel, die wir gemacht hatten, wurden uns aus der Hand gerissen, obwohl darauf nur so banale Tipps standen wie ,Wie kann ich, da ich keine grünen Sachen mehr kaufen kann, die Vitaminversorgung meiner Kinder sicher stellen?' oder ,Bei welchem Verfallsdatum auf der Milch kann ich davon ausgehen, dass sie noch von vor Tschernobyl und unbelastet ist?' Diese Dinge waren aber in dem Moment lebenswichtig. Wir konnten das alles privat aber nicht weiter finanzieren, die Post ging waschkörbeweise ein. Dann haben wir gesagt, wir müssen das irgendwie organisieren und einen Verein gründen und das war auch gut so, weil damit auch alle Initiativen, die sonst alle wieder verschwunden wären, ein Dach bekommen haben. Als wir uns gegründet haben, haben die alle - in Nürnberg, Fürstenfeldbruck oder Olching - gesagt, wunderbar, da machen wir mit.

SZ: 20 Jahre danach kann man fragen, ob es sich gelohnt hat. Geändert hat sich ja nicht allzu viel.

Wurzbacher: Nicht allzu viel, aber doch einiges. Wir haben einen Atomausstieg, der ist zwar langfristig angelegt, aber wir haben ihn. Es gilt im Moment, diesen Atomausstieg wenigstens zu verteidigen. Was ein großer Erfolg ist, ist das Bewusstsein, in eine nachhaltige Energieversorgung investieren zu müssen. Wir sind ja heute schon so weit, dass wir zehn Prozent unseres Stroms mit erneuerbaren Energien erzeugen. Das ist im Vergleich zur Zeit vor 20 Jahren ein Erfolg, denn da spielten die erneuerbaren Energien überhaupt keine Rolle.

SZ: Sind bei Ihnen jetzt wieder jüngere Mütter Mitglied oder sind das eher die von damals?

Wurzbacher: Ab und zu kommen schon jüngere, aber man muss schon sagen, dass - und das gilt für die ganze Anti-AKW-Bewegung - der Altersdurchschnitt sehr hoch ist und viele Veteranen darunter sind. Aber das Thema interessiert auch junge Leute.

SZ: Sie sind ja im Umweltinstitut München beschäftigt, das ebenfalls aufgrund von Tschernobyl gegründet wurde. Wie ist denn jetzt die Lage bei unserer Nahrung zu beurteilen, ist sie noch radioaktiv belastet?

Wurzbacher: Die normalen Nahrungsmittel sind nicht mehr belastet, dank des Umstandes, dass Cäsium im Boden an die Tonminerale gebunden wird, daher kann es von Pflanzen nur geringfügig aufgenommen werden. Anders sieht es bei allem aus, was aus dem Wald kommt, denn da haben wir auf dem mineralischen Boden eine Humusschicht, die leicht sauer ist und in der das Cäsium in dieser Form nicht fixiert wird. Es ist dort sehr mobil und wird von den Pflanzen aufgenommen, vor allen Dingen von Pilzen. Die Waldpflanzen werden vom Wild aufgenommen, die Wildschweine suchen sogar die unter der Erde wachsenden Hirschtrüffel, die alle sehr hoch belastet sind. Deswegen haben wir Belastungen bei bestimmten Pilzsorten, da gibt es ein paar Spitzenreiter, etwa die Maronenröhrlinge, Semmelstoppelpilz, Reifpilz. Dann ist das Wild belastet, das, je nachdem zu welcher Jahreszeit es geschossen wird, noch Werte über dem von der EU festgelegten Grenzwert haben kann - das wären 600 Bequerel pro Kilogramm. Bei Wildschweinen ist es ganz besonders schlimm. Da hat die Belastung zum Teil auch noch zugenommen, weil sie das ganze Jahr im Erdreich wühlen. Da gab es in den letzten Jahren sogar noch einen Spitzenwert von 70.000 Bequerel pro Kilogramm. Alles, was über 600 Bequerel belastet ist, wird, sofern es aus Staatsforsten kommt, entsorgt.

SZ: Also das wird noch kontrolliert?

Wurzbacher: Es wird noch kontrolliert, wenn es aus Staatsforsten kommt, und entsorgt, darf also nicht auf den Markt kommen, und die Jäger werden dafür auch noch entschädigt.

SZ: Darüber spricht keiner mehr.

Wurzbacher: Nein, da spricht keiner drüber. Die Gefahr besteht aber eher bei Wild aus privaten Jagden. Da wird nicht untersucht, bevor das frisch geschossene Wild an ein Gasthaus geben oder im Bekanntenkreis verteilt wird. Da ist man nicht gefeit gegen eine höhere Belastung. Es gibt aber auch immer wieder Ausreißer bei Pilzen: Wir haben da mal einen Fall verfolgt, weil belastete Ware sogar auf Münchner Wochenmärkte gelangte.

SZ: Die Folgen sind also noch präsent, nur hat man sie verdrängt?

Wurzbacher: Von offizieller Seite wurde dabei nachgeholfen. Drei oder vier Jahre nach Tschernobyl wurde bereits erklärt, es sei alles bedenkenlos.

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