Tenor Rolando Villazòn im Interview:"Man muss ein Universum bauen"

Lesezeit: 10 min

Der lyrische Tenor Rolando Villazón singt an der Bayerischen Staatsoper die Titelpartie in "Hoffmanns Erzählungen". Ein Gespräch über Werther - und den Zustand seiner eigenen Stimme.

Egbert Tholl

Jacques Offenbachs Oper "Hoffmanns Erzählungen" hat am heutigen Montagabend in der Regie von Richard Jones an der Bayerischen Staatsoper Premiere. Die musikalische Leitung hat Constantinos Carydis. Rolando Villazón singt die Titelpartie. Zuletzt hat er in München den Nemorino im "Liebestrank" gesungen und Anfang des Jahres selbst inszeniert, nämlich den "Werther" in Lyon. Im Gespräch (auf Englisch) wirkt Villazón, als hätte es nie irgendwelche Krisen gegeben. Er sprüht, er funkelt, er spinnt, er lebt einem die ganze Oper unter Hochdruck vor. Ein herrliches Erlebnis, das nur unzureichend in Worten wiedergegeben werden kann.

"Theater muss eine Theater-Botschaft senden", ist Rolando Villazón überzeugt. (Foto: Stephan Rumpf)

Am Ende unseres letzten Gesprächs sprachen wir über Literatur.

Mmh.

Sie lesen mindestens ein vernünftiges Buch pro Woche.

Mmh. Aber wer weiß, was davon im Kopf bleibt.

Kennen Sie die Erzählungen von E.T.A. Hoffmann?

Ja, ja. Aber es ist nicht notwendig für einen Darsteller, die Bücher zu lesen, auf denen eine Oper basiert. Man muss nicht Mérimée lesen, um in "Carmen" zu singen, oder Dumas' Roman für "Traviata". Jedoch: Je mehr man für sich selbst liest, desto mehr Phantasie bekommt man, um einen starken Charakter auf der Bühne zu entwickeln. Also: Ich würde einer Sopranistin empfehlen, "Anna Karenina", "Madame Bovary" oder "Nana" zu lesen, wenn sie die Violetta in "Traviata" singen will. Bezüglich "Hoffmann": Natürlich basiert die Oper auf dem Stück von Barbier und Carré, aber die Geschichten von E.T.A. Hoffmann wurden von diesen beiden verwendet. Offenbach sah das Stück - und wollte es vertonen.

Sprich: Die Kenntnis der Erzählungen kann den Charakter des Hoffmann anreichern?

Ja, aber es gibt auch einen anderen Aspekt. Ich glaube, je weniger ein Sänger an Informationen mitbringt, desto besser ist es für einen wirklich guten Regisseur, mit ihm zu arbeiten. Erst schaue ich, was ein Regisseur will - und dann entscheide ich, was ich lese. Vergangene Woche las ich beispielsweise "Meister und Margarita" von Bulgakow - Sie wissen, die Geschichte vom Teufel, der nach Moskau kommt - das ist dieselbe Situation wie im "Hoffmann" im Giulietta-Akt. Wenn man zur ersten Probe mit einer festen Vorstellung ankommt, wie man eine Rolle spielen will, wird man wahrscheinlich zum Problem für den Regisseur.

Aber Sie können das doch nicht ausblenden. Sie wissen das doch alles.

Nein, nein, ich versuche, völlig leer anzukommen.

Obwohl Sie den Hoffmann schon in vier Produktionen gesungen haben?

Ja - und dann vergisst man das wieder. Das war gestern. Jedes Mal ist es ein neues Stück. Weil: Offenbach starb, bevor er die Oper vollenden konnte. Jedes Opernhaus macht ein bisschen eine andere Fassung. Hier ein kleiner Chor dazu, dort einer weg.

Was ist in München neu?

Es gibt ein Terzett, das ich noch nie gesungen habe. Im Olympia-Akt ist die Reihenfolge anders, im Antonia-Akt auch, es gibt ein paar kleine Stellen, die für mich neu sind.

Haben Sie selbst schon einmal in einer Produktion gesungen, in der alle vier entscheidenden Frauenfiguren von einer Sopranistin wie hier nun von Diana Damrau gesungen wurden?

Nein, das ist absolut außergewöhnlich. Gut, ein paar wenige Sopranistinnen sangen das, Gruberova oder Sutherland, aber ich weiß kaum jemanden, der das heute tun kann. Diana ist verblüffend. Sie hat einen unglaublichen Instinkt auf der Bühne, es ist eine große Freude, mit ihr zu arbeiten. Sie ist wunderbar und kann die Figur so singen, dass man glaubt, sie wäre für sie geschrieben.

Bedeutet es etwas für die Interpretation, dass die Muse und die drei Phantasmagorien von einer Frau gesungen werden?

Offenbach wollte eine Sängerin für die vier Partien. Auch wenn man vier verschiedene Sängerinnen hat, stellt sich am Ende normalerweise eine Ahnung davon ein, dass alle vier eine Frau sein könnten. Das Wunderbare an Hoffmann ist, dass man an einem Abend vier Rollen spielen kann. Man hat den Hoffmann im Prolog und im Epilog, der betrunken ist, der mit dem Schreiben kämpft, der sich fragt, ob er dem Leben oder der Kunst folgen soll, ob er ein anarchisches oder ein bürgerliches Leben führen soll. Und im Epilog hat man zusätzlich den Hoffmann, der erkennt, dass er seine Chance mit Stella vertan hat, dass ihm nur noch das Schreiben bleibt. Und dann, im Olympia-Akt, kann Hoffmann lustig und naiv sein, gar nicht grüblerisch, man kann ihn sich als einen Bruder von Nemorino vorstellen. Er verliebt sich in eine Puppe! Aber auch das muss etwas Wichtiges haben. Etwas von "Alice in Wonderland", wie in den Geschichten von E.T.A. Hoffmann selbst, diese Jenseits-von Realität-Geschichten, die in der Realität spielen. Diese Geschichten kommen aus einem Albtraum, aber der Albtraum ist ein ganz normaler Traum, der eigentlich Realität ist, wir müssen dies nur akzeptieren. Dann fühlt man sich in dieser Welt auch sehr wohl.

Das merkt man.

Richard Jones ist ein Genie. Ich liebe es, mit ihm zu arbeiten. Er will das alles sehr ernst haben. Wir dürfen keine Witze machen, es darf keine Karikatur werden. Man muss es so darstellen, dass Hoffmann immer absolut verliebt ist. Es ist fast wie die Liebe von Alfredo zu Violetta in "Traviata". Kein Tralala.

Die Puppe Olympia ist für ihn also völlig real?

Je ernsthafter man das spielt, desto besser ist die Geschichte. Wenn man nur so tut, ist alles nur ein Witz. Das Publikum darf sich wundern, aber es soll seine Liebe zu der Puppe akzeptieren.

Aber ein bisschen komisch ist das hier schon auch.

Ja, aus dieser totalen Ernsthaftigkeit folgt dann die beste Komödie. Es ist wirklich ein sehr lustiger Akt. Im Antonia-Akt wird Hoffmann dann aber zu einem ernsten Charakter, zu einem Mann, der Erfahrungen gemacht hat, der darüber nachdenkt zu heiraten. Dann merkt er, dass mit Antonia etwas nicht in Ordnung ist, dass sie nicht singen darf; und schließlich ist sie tot. Und er glaubt, er sei schuld daran. In diesem Moment ist Hoffmann eine sehr einsame, sehr verlorene Person. Im Olympia-Akt braucht er keine Anleitung; er lebt in dieser Welt, saugt sie auf.

Während er im Antonia-Akt wie ein Fremdkörper wirkt, wie jemand, der nicht hier hin gehört.

Genau. Er wundert sich, wovon die Menschen reden, was für Geheimnisse sie haben. Es ist nicht Realität. In die wird er dann im Giulietta-Akt gezwungen. Oder besser: Er zwingt sich selbst. Wenn die Welt so ist, dann soll sie eben so sein. Er versucht, die Regeln des Alptraums zu spielen. Wer versteht schon die Welt, in der wir leben? Wer versteht, wie Wirtschaft wirklich funktioniert? Wie Politik funktioniert. Welches System wirklich das beste für die Menschheit ist. Die Metapher hier ist sehr stark, auch für unsere heutige Zeit. Es ist eine wunderbare Oper. Es ist so schade, dass Offenbach starb, bevor er sie vollenden konnte. Ich stelle mir vor, wie Offenbach in der Nacht arbeitet, mit Fieber, verzweifelt, er will fertig werden, er will das Werk auf der Bühne sehen. Und da merkt er, nein, es wird nicht funktionieren, er wird es nie sehen. Eigentlich war er ein fröhlicher Mensch, ein Hoffmann-Mensch.

Der wie seine Figur das Leben über die Kunst erklärt. Welcher der vier Hoffmanns ist Ihnen am liebsten?

Die müssen alle zusammenkommen. Man muss alle lieben. Vielleicht kann man sich einen für sich aussuchen, aber ich kann das nicht. Es gibt ja innerhalb der Akte keine Entwicklung des Charakters. Man muss einfach den Charakter wechseln, von Akt zu Akt. Die Entwicklung geht insgesamt von dem Menschen, der Hoffmann im Prolog ist, bis zu dem, der er im Epilog ist. Die drei Geschichten, die wir sehen, haben den Menschen vom Anfang verändert. Wir sehen diese Veränderung. Es ist nicht wie bei Don Jose ("Carmen"), ein Beispiel. Bei dem sieht man, wie er sich verändert, wie er zum Killer wird. Hier: nein. Aber: Wenn er am Ende noch einmal "Klein Zack" singt, ist er ein völlig anderer. Er kann es nicht mehr so singen wie am Anfang.

Wir treffen Hoffmann also nach drei Stunden wieder, und er ist ein anderer.

Er ist derselbe, nur drei Stunden später. Jetzt hat er alle diese Hoffmanns in sich. Wie wenn man lange zusammensitzt und Wodka trinkt. Der Wodka öffnet das Innere, und man fängt an zu erzählen. Von Frauen und von Liebe. Und Hoffmann erzählt von drei Frauen, von drei Lieben, und weiß, dass das alles Unsinn ist, weil die drei Frauen doch nur eine sind, die eine, die er liebt. Am Anfang erzählt er noch voller Elan: Ha, ihr wollt eine Geschichte hören, hier ist sie. Prost. Von einem Menschen, der sich in eine Puppe verliebt hat. Prost. (Villazón springt auf und tobt durch den Raum.) Und dann kam dieser Typ, der ihm eine Brille gab, so dass er nicht erkennen konnte, dass es eine Puppe ist, und so weiter und weiter, noch ein Zauber, Prost. Und alle Zuhörer freuen sich und glauben ihm oder auch nicht, und er erzählt weiter, von einer Frau, die nicht singen darf, sonst stirbt sie. Und er trinkt, und die Zuhörer trinken, und alle sind gespannt, wie es weitergeht. Und er erzählt und erzählt und trinkt und trinkt. Und er erzählt, dass die Frau singt und stirbt. Und er heult und weint und ist verzweifelt. Und dann: Lasst mich erzählen von dem Typen, der verliebt war in eine Hure. Hahaha. Und die Frau spielt mit ihm, doch er liebt sie. Und Hoffmann, der die Hoffmann-Geschichten erzählt, wird immer wilder und seine Zuhörer sind begeistert, und er ist völlig erschöpft. Und dann sind seine Geschichten aus, und die anderen wollen "Klein Zack" noch einmal hören, also singt er "Klein Zack", bis er besoffen zusammenbricht.

Können Sie das bitte exakt noch einmal so machen?

(lacht). So ist es. Man kann nicht einfach am Ende so tun, als wäre nichts passiert. (Villazón singt mit bewusst lieblicher Stimme, um klar zu machen, wie Hoffmann am Ende nicht klingen darf.) So geht es nicht. Mit den Geschichten gab er seinem Leiden Form, machte es größer.

Wäre dies die Beschreibung der Inszenierung gewesen, wenn Sie "Hoffmann" selbst inszenieren würden?

Nein. Als ich "Werther" inszenierte, war das am Anfang eine sehr kalte, pragmatische Arbeit. Bevor ich anfing, von Gefühlen und Psychologie zu sprechen, stellte ich das Stück durch. Ganz kalt: Du gehst hierhin, du dorthin, du machst das, du das. Und ich sagte: Stellt mir keine Fragen, Fragen kommen später. Nach sechs oder sieben Tagen, nachdem das Stück durchgestellt war, wusste jeder, was er wann zu tun hatte. Dann musste es gefüllt werden mit Individualität. Ich wollte zum Beispiel, dass Albert und Charlotte sich wirklich lieben. Ich mag es nicht, wenn Albert ein harter, blöder Typ ist. Denn warum sollte Charlotte ihn dann nicht wegen Werther verlassen?

Gab es die Clowns in Ihrer "Werther"-Inszenierung, diese poetische Kommentar-Ebene von Anfang an?

Ja. Ich überlegte, wovon handelt "Werther". Er handelt von Determinismus, von Gesellschaft, Familie. Es gibt kein Entkommen von den Pflichten. Von Anfang an wollte ich mit Farben arbeiten, bunte Farben für die Kinder, et cetera. Manches verwarf ich wieder. Der Determinismus geht weiter, über die Ehe bis in den Tod. Und die Clowns verkörpern den freien Willen, die anarchische Kraft.

Das Entscheidende ist anscheinend oft ähnlich. Albert und Charlotte müssen sich lieben, sonst funktioniert die Geschichte nicht. So wie Hoffmann die Puppe Olympia lieben muss. Man muss diese Gefühle behaupten.

Jajaja. Gut, um ehrlich zu sein, vielleicht würde es auch funktionieren, wenn man Albert als strengen Mann zeichnet, als ein echtes Arschloch, und Charlotte vielleicht als Trinkerin. Es wird auch funktionieren. Wichtig ist nur: Egal wofür du dich entscheidest, du musst es ernsthaft behaupten. Du musst es selbst glauben. Du musst den Charakteren glauben. Wenn Olympia für Hoffmann die schönste Frau der Welt ist, dann muss es so sein. Natürlich ist das alles eine Metapher. Was bedeutet es, wenn Hoffmann eine Puppe liebt? Was bedeutet das für seine eigentliche Liebe Stella, die er in den drei Frauen sieht? Welche Seite von Stella beschreibt Hoffmann mit Olympia, mit Antonia, mit Giulietta? Benimmt sich Stella selbst manchmal wie eine Puppe, eine Puppe im Spiel der Gesellschaft? Ist Stella so gnadenlos wie Antonia - ich singe und sterbe. Ist sie so verführerisch wie Giulietta, die ihn vom Schreiben anhalten will? Alle gehören zusammen.

Erörtern Sie solche Fragen mit Ihrer Gattin, die ja Psychologin ist?

Manchmal. Ich glaube, wir sprechen mehr darüber, wie die Produktion läuft, welche Ideen darin behandelt werden. Sie hat ein sehr gutes Auge für Ästhetik. Wenn sie zuschaut, fragt sie manchmal danach, was eine bestimmte Bewegung ausdrücken sollte. Wenn sie fragt, dann war es nicht klar. Dann muss ich überlegen, wie ich es klar mache. Dieses ganze Reden, diese vielen Ideen - wie viel davon kann man auf der Bühne umsetzen? Was ich zuvor erzählte, ist auch ein Weg, mir selbst zu erklären, worum es geht und was ich spielen muss.

Ist das nicht schade?

Was?

Dass man nicht alle Ideen auf die Bühne transportieren kann.

Nun, was ich vorhin gemacht habe, hat vielleicht mehr mit Schreiben als mit Schauspielen zu tun. Diese Überlegungen sind nur Werkzeuge für die Aufführung. Richard Jones ist auch deshalb so gut, weil er alles aufräumt. Man kann alles ausprobieren, alles einmal machen. In den Proben. Man muss es nicht in der Aufführung machen. Man hat es im Kopf. Alles, was zu viel ist, muss man wegschneiden. Es muss Theater sein, kein Dekor. Kino ist immer perfekter. Theater hingegen muss eine Theater-Botschaft senden. Theater hat seine eigene Sprache. Und das ist keine Kino-Sprache. Man muss ein Universum bauen. Dieses kann man dann hassen oder lieben, beides, wie meinen "Werther". Aber es muss gebaut werden.

Und nun: Wie geht es Ihrer Stimme?

(lacht) Ich bin gespannt, wie viele Jahrzehnte ich diese Frage noch hören werde. Es geht mir supergut.

Passen Sie jetzt endlich mal ein bisschen auf sich auf? Normalerweise ist es doch so: Kaum geht es Ihnen prima, machen Sie wieder viel zu viel, und zack, Villazón wieder kaputt.

Ich bin, wer ich bin, ich kann nur so singen, wie ich singe. Außerdem muss ich Ihnen widersprechen. Ich habe viel freie Zeit, ich mache nicht tausend Sachen gleichzeitig.

Aber Sie taten es.

Ja, ich tat es. Und ich würde es wieder tun, wenn ich es tun müsste. Tausend Dank für alles, was ich machen durfte.

Sie würden das Leben, dass Sie von 1999 bis 2006 geführt haben, so wieder führen?

Ich würde dieselben Dinge tun.

Das habe ich geahnt.

Das ist der Punkt, den manche vielleicht nicht verstehen. Ich habe meine Erkrankung nicht durch meine Art zu singen herbeigeführt. Das wäre natürlich eine einfache Erklärung, aber die Wahrheit ist komplizierter. Wissen Sie, wie viele Anrufe der Arzt erhielt, der mich operierte? Keinen. Wenn ihn Jemand fragt, würde er sagen - denn er hat die Erlaubnis dazu - dass ich eine genetisch bedingte Zyste hatte, die ich bekommen hätte, egal wie viel oder wie wenig ich gesungen hätte.

Völlig unabhängig davon, wie viel Sie sangen?

Vielleicht habe ich den Prozess beschleunigt, auch durch die Art, wie ich singe. Aber sicher ist das nicht. Wer weiß schon, wie lange er singen wird - drei, zehn, 20 Jahre? Ich weiß es nicht. Aber solange es geht, wird es so gehen, wie ich es will und wie ich es fühle. Sogar dann, wenn es nicht gut geht. Seit einem Jahr fühle ich mich richtig gut. Ich wäre vor der Operation nie fähig gewesen, Don Ottavio zu singen. Also, letztlich ist die Antwort: Ja, ich bin immer noch ein Seiltänzer. Ich tanze auf dem Seil, ohne Netz und doppelten Boden.

© SZ vom 31.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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