Tagelöhner in München:Ware Mensch

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Tagelöhner im Münchner Bahnhofsviertel. Anwohner und Geschäftsleute sehen sie nicht gerne. Der Zoll kontrolliert derzeit vermehrt. (Foto: lok)

Sie verlassen ihre Heimat, um im reichen München ihr Glück zu suchen: Im Bahnhofsviertel hoffen Arbeiter aus Osteuropa kurzfristig auf Jobs - jeden Tag aufs Neue. Viele leben unter menschenunwürdigen Bedingungen. Doch in München schlägt ihnen Ablehnung entgegen.

Von Michael Risel

Irgendwo im Süden Münchens zieht Hristov Jusuf eine kleine Leiter aus dem Gebüsch, stellt sie an die Mauer und zeigt mit der Hand nach oben. Er klettert hinauf, wartet kurz, dann marschiert er los. Mit seinen weißen Turnschuhen, der braunen Jacke und einer Schiebermütze auf dem kahlen Schädel stapft er durch das nasse Gras. Es regnet. Jusuf kennt den Weg genau, er führt zu seinem Unterschlupf.

Vor einer verfallenen Ziegelsteinbaracke macht er Halt. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben kann man ins Innere sehen. Die Wände sind mit Graffiti beschmiert, an vielen Stellen bröckelt der Putz. Auf dem Boden liegen Matratzen dicht an dicht, darauf dreckige Schlafsäcke und abgewetzte Decken. Die Luft riecht nach Schimmel und Schweiß. Nachts schlafe er hier zusammen mit zehn anderen Männern, erzählt Jusuf. Auf engstem Raum. Ohne Wasser, ohne Strom, ohne Toilette. Die einzige Möglichkeit, sich zu waschen, sei die nächste U-Bahn-Toilette.

Wo genau sich das Nachtlager befindet, soll nicht in der Zeitung stehen. Zu groß sei die Gefahr, dass die Polizei das illegale Versteck entdeckt und die Männer auf die Straße setzt. Rund 100 solcher Schlafplätze gebe es in München, schätzt Jusuf. Und an manchen sehe es noch sehr viel schlimmer aus. Jusuf, 39, kommt aus Bulgarien. Seit drei Jahren lebt er in München und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.

Tagsüber steht er im südlichen Bahnhofsviertel, an der Kreuzung Landwehr-/Goethestraße, und wartet. Darauf, dass ein Minibus am Straßenrand hält, jemand eine Hand durch das geöffnete Seitenfenster streckt und ihn heranwinkt. Denn das ist das Signal: Es gibt Arbeit. Für eine Stunde, einen Tag oder wenn man Glück hat gleich für einen ganzen Monat. Auf einer Baustelle oder als Reinigungskraft in einem Hotel. "Arbeiterstrich" haben Boulevardmedien diesen Ort getauft. Weil Menschen wie Hristov Jusuf dort ihre Arbeitskraft für einen Hungerlohn verkaufen.

Genaue Zahlen gibt es nicht

Wie viele Südosteuropäer auf diese Weise in München ihr Geld verdienen, ist unbekannt. Genau Zahlen gibt es nicht. Der Zoll geht von etwa 150 Personen aus, die sich regelmäßig an der Tagelöhnerbörse anbieten. Kenner der Szene schätzen den Kreis auf das Dreifache. Fest steht: Die Kreuzung im Bahnhofsviertel hat sich mittlerweile zu ihrem Treffpunkt entwickelt.

Auch an diesem Morgen flankieren kurz nach 8 Uhr wieder mehrere Dutzend Männer mit müden Augen den Gehsteig. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stapelt ein türkischer Supermarktbesitzer Gemüsekisten vor seinem Laden. Die Gegend um den Bahnhof ist ein kleines Vielvölkerreich. Menschen aus unzähligen Nationen leben hier zusammen, mehr als die Hälfte der Einwohner hat ausländische Wurzeln. Hier, so scheint es, gibt es für jeden einen Platz. Nur für die bulgarischen Tagelöhner nicht.

Seit Monaten gehen deutsche und türkische Anwohner und Geschäftsleute auf die Barrikaden. Ihnen gehören Hotels, Cafés und Juweliergeschäfte. Das Viertel sehen sie als ihr Revier, das sie verteidigen wollen. Gegen die "stetig wachsende Menge von Arbeitern", wie sie in einer Petition schreiben. Die Liste der Vergehen, die sie den Tagelöhnern zur Last legen, ist lang: Sie verschmutzten den Gehsteig, heißt es, sie urinierten in Hinterhöfe, blockierten die Eingänge zu den Geschäften und verschreckten die Kundschaft. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Uhl unterstützte den Protest. An Polizei und Zoll richtete er die Forderung, härter durchzugreifen und die Arbeiter von der Kreuzung zu vertreiben.

Beim Zoll hat man offenbar auf den politischen Druck reagiert. Ermittler der Finanzkontrolle Schwarzarbeit hätten in den vergangenen Wochen schwerpunktmäßig im Zusammenhang mit dem Tagelöhnermarkt kontrolliert und Aufklärungsgespräche geführt, sagt ein Sprecher. Das Ergebnis: Neun von zehn der arbeitssuchenden Bulgaren im Bahnhofsviertel haben keine gültige Arbeitserlaubnis. Die aber brauchen sie, um in Deutschland legal eine Beschäftigung auszuüben.

Ausgenommen von dieser Regelung sind Selbständige wie Hristov Jusuf. Er hat ein Gewerbe als Maler angemeldet. Doch auch in solchen Fällen wird der Zoll misstrauisch. Weil viele die deutsche Sprache nicht beherrschten, kein Betriebskapital und keinen Betriebssitz hätten, vermuten die Fahnder, dass es sich bei ihrer Tätigkeit um Scheinselbständigkeit handelt. Wer erwischt wird, dem droht ein Bußgeld von bis zu 5000 Euro.

Wütende Anwohner, Politiker, die hart durchgreifen wollen, sowie Zollbeamte auf der Jagd nach mutmaßlichen Schwarzarbeitern - es ist eine große Welle der Ablehnung, die Hristov Jusuf und seinen Landsleuten derzeit entgegenschlägt. Jusuf ist von deren Ausmaß überrascht. "Wir sind doch keine Verbrecher", sagt er. "Ich bin nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten, nicht, um gegen Gesetze zu verstoßen."

Diese Erfahrung hat auch Savas Tetik gemacht: "Die Leute wollen arbeiten." Tetik kennt die Situation auf dem Tagelöhnermarkt genau. Seit vergangenem Jahr arbeitet er bei der Arbeiterwohlfahrt im Informationszentrum für Migration und Arbeit. Regelmäßig besucht er den Tagelöhnermarkt und hilft den Menschen bei ganz alltäglichen Dingen wie dem Ausfüllen von Formularen. "Die Sprache ist ein großes Problem", sagt er. Viele der Arbeiter könnten kein Deutsch. So auch Hristov Jusuf.

"Erbärmliche Slums"

Wie die meisten Bulgaren, die sich auf dem Tagelöhnermarkt verdingen, stammt er aus der 80.000-Einwohner-Stadt Pasardschik. Dort gehörte er zur türkischen Minderheit. Wegen ihrer dunklen Hautfarbe werden sie häufig diskriminiert, gelten als Bürger zweiter Klasse. "Die Menschen leben dort in erbärmlichen Slums", sagt Wilhelm Dräxler. Er ist Experte für Migration beim Caritasverband München.

Im vergangenen Jahr ist er für neun Tage nach Bulgarien gereist und hat sich über die Situation vor Ort informiert. Über manche Eindrücke ist er noch heute tief erschüttert. Er habe ein Krankenhaus besucht, "da sind die Kakerlaken zu Tausenden rumgelaufen". Die Gesundheitsversorgung insgesamt sei "grauenhaft". Das gilt auch für die wirtschaftliche Lage. In manchen Vierteln erreiche die Arbeitslosigkeit eine Quote von 90 Prozent. Dräxler hat das durchgerechnet: Umgerechnet 50 Euro an Sozialhilfe zahlt der bulgarische Staat. Eine vierköpfige Familie aber bräuchte 1200 Euro im Monat, um zu überleben.

Seit Bulgarien und Rumänien 2007 der Europäischen Union angehören, stieg die Zahl der Zuwanderer aus den beiden Ländern deutlich an. 2012 kamen laut Statistischem Bundesamt insgesamt 71 000 Personen aus diesen Ländern nach Deutschland - 22 Prozent mehr als noch 2011. In München waren Ende des vergangenen Jahres mehr als 21 500 rumänische und bulgarische Staatsbürger gemeldet. Zum Vergleich: 2006, im Jahr vor dem Beitritt, waren es noch 7200, also etwa ein Drittel. Doch ohne Hochschulabschluss oder eine Berufsausbildung bleibt auch in Deutschland ihre Aussicht auf einen Job schlecht.

Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg kommt zu dem Ergebnis, dass gut ein Drittel der Zuwanderer zur Gruppe der Geringqualifizierten gehört. "Die haben es in München besonders schwer", sagt Wilhelm Dräxler. Wenn sie keine Arbeit finden, gibt es kein soziales Netz, das sie auffängt. Einen Anspruch auf Sozialleistungen haben sie in der Regel nicht.

Der Migrations-Experte spricht von einer "brutalen Stresssituation", in der sich viele befänden: ohne festen Job, ohne Unterkunft und mit einer Familie in der Heimat, die sie ernähren müssen. Anstatt einen Schlafplatz in einem Wohnheim zu mieten, schickt Hristov Jusuf den Großteil seines Lohns nach Pasardschik, wo seine Frau mit den zwei Söhnen lebt.

Bei der Stadt München, so Dräxler, tue man nur das "Allernotwendigste", um den Menschen in ihrer Not zu helfen. Mit einem Kälteschutzprogramm sollen wohnungslose Migranten in den Wintermonaten vor dem Erfrieren bewahrt werden. Darüber hinaus sehe man sich aber nicht in der Lage, die "Armutsmigration" alleine zu bewältigen, heißt es aus dem Sozialreferat.

"Wenn man nicht will, dass sich die Menschen auf den Weg machen, muss man die Armut vor Ort bekämpfen", sagt Dräxler. Es komme langfristig darauf an, "Know-how zu transferieren", um die heimische Wirtschaft anzukurbeln. Falsch dagegen sei es, die Kontrollen auf dem Tagelöhnermarkt zu verschärfen: "Das ist eine Verfolgung von armen Leuten, die keine Chance haben."

© SZ vom 30.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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