Schwabing:Wahnmoching

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Einst Bohème, dann Schickeria. Und heute? Schwabing, sagen die Schwabinger, findet nur noch im Verborgenen statt. Auf der Spur eines Mythos.

Andreas Schubert

In seinen Regalen stapeln sich Dinge, die andere weggeworfen haben - ein altes Stück Ofenrohr, halbverwitterte Papierfetzen. Durch die riesige Fensterfront von Alfred Dardas Atelier fällt Tageslicht auf ein wirres Sammelsurium aus Pinseln, Spachteln und Farbtuben, an den Wänden hängen Dardas Fundstücke zu Bildern verarbeitet.

(Foto: Foto: BR/oh)

In den Räumen des 69-jährigen Malers in der Adalbertstraße herrscht eine Atmosphäre, die man als kreative Unordnung bezeichnen könnte. Diese Oase des Schöpferischen inmitten eines bürgerlichen Umfelds, ist heute eher die Ausnahme.

Schwabing - das war einmal der Ort, an dem sich jahrzehntelang Kunst und Nachtleben zu einer wilden, kreativen Mischung vermengten. Wo Literaten und Künstler zechten. Dieses Schwabing ist Vergangenheit.

Glaubt man Wolfgang Roucka, hat Schwabing seinen Ruf als Künstler- und Szeneviertel heute weitgehend eingebüßt. Dieses Leben habe sich mittlerweile auf die ganze Stadt verteilt, sagt der Fotograf, der in 41 Jahren mit seiner Postergalerie in der Feilitzschstraße selbst zu einer Institution geworden ist.

In seinen Studio-Räumen veranstaltet er regelmäßig Ausstellungen, Lesungen und Konzerte. Vor zwei Jahren hat er einen Preis gestiftet für Menschen, die sich um das kulturelle Geschehen im Stadtteil verdient machten. "Neubelebung tut Not", sagt Roucka, "nicht Wiederbelebung, denn tot ist Schwabing noch lange nicht." Aber ruhiger.

"Heute findet Schwabing eher im Verborgenen statt", sagt Alfred Darda. Als er 1961 von Essen nach München kam, war klar, in welchem Viertel er sich niederlassen würde. "In Schwabing ist was los, hieß es damals." Dass er eigentlich in der Maxvorstadt lebt und Schwabing erst hundert Meter weiter, in der Georgenstraße anfängt, nimmt Darda gelassen.

"Schwabing ist dort, wo gearbeitet, gedacht, gelebt wird." Ein bisschen prägnanter hat das vor gut hundert Jahren die Femme fatale der Schwabinger Bohème, Franziska zu Reventlow, ausgedrückt. Gemeint hat sie dasselbe: "Schwabing ist kein geographischer Begriff, sondern ein Zustand."

Der sah zu der Zeit, um die sich heute die Legenden ranken, so aus. Im "Café Stefanie", Ecke Amalien-/Theresienstraße und im "Simplicissimus" in der Türkenstraße verkehrten Frank Wedekind, Erich Mühsam, Paul Klee und viele andere kreative Köpfe "Wahnmochings", wie Schwabing, respektive Maxvorstadt, damals von der Gräfin zu Reventlow betitelt wurde.

Später war es der Ort, an dem sich die Jugend gegen den bürgerlichen Mief auflehnte, wie 1962, als sie sich bei den berühmten Schwabinger Krawallen vier Tage lang Straßenschlachten mit der Polizei lieferte. Das Ereignis wird heute oft als Vorläufer der 68er-Unruhen betrachtet.

Schwabing war das Umfeld, in dem "Bei Gisela" in der Occamstraße gesungen, getanzt und gefeiert wurde. Wirtin Gisela Dialer, die "Schwabinger Gisela", ist heute eine Legende - berühmt ist noch immer "Der Nowak lässt mich nicht verkommen", einer ihrer als verrucht geltenden Schlager, die ihr den Ruf der Unzüchtigen einbrachten.

Und Schwabing war auch das Viertel, in dem sich die Schickeria feierte. Wo Helmut Dietl sein Stammlokal "Romagna Antica" hatte, das er zusammen mit der Bussi-Gesellschaft in seinem Film "Rossini" verewigte. Das Romagna Antica hat Anfang dieses Jahres zugemacht. Den einstigen Schicki-Treff in der Elisabethstraße gibt es nicht mehr.

Um 22 Uhr sind die Straßen leer -die Upper-Class-Kinder schlafen

"Einst" ist ein Schlüsselwort, wenn heute vom Zustand Schwabing die Rede ist. Im 19. Jahrhundert musste per königlichem Erlass noch in jeden Schwabinger Neubau ein Atelier im Obergeschoss eingebaut werden.

Noch heute sind die großen Fensterfronten ein Markenzeichen des Stadtteils. Doch große Atelierwohnungen wie die von Alfred Darda sind rar. Die meisten wurden zu Luxusdomizilen für Dotcom-Millionäre und Staranwälte umgebaut.

Mit dem Zuzug der Reichen sind nicht nur die Preise gestiegen, auch das Ruhebedürfnis der betuchten Anwohner nahm zu. Linda Jo Rizzo und Guido Beham, die seit sechs Jahren das Musik-Restaurant "Piazza Linda" in der Elisabethstraße betreiben, kennen die empfindlichen Ohren mancher Nachbarn.

In dem stilvoll mit Postern von Marcello Mastroianni und Sophia Loren eingerichteten Kellergewölbe gibt es jeden Tag Live-Musik. Doch Punkt elf wird den Musikern wochentags der Stecker herausgezogen. "Früher waren die Leute toleranter", sagt Linda Jo Rizzo, 51.

Vor 23 Jahren kam die Sängerin aus New York zum ersten Mal nach München und fühlte sich von der Atmosphäre in Schwabing an die New Yorker Szene-Viertel Greenwich Village und Soho erinnert. "Alles war so swinging, so lebendig."

Das soll wieder so werden, sagt die singende Wirtin, die auf ihre jüngste CD eine eindeutige Botschaft gedruckt hat. Sie lautet: Schwabing lebt. Doch in Wirklichkeit scheint ein quirliges Etablissement wie das Piazza Linda nicht mehr in die verschlafene Elisabethstraße zu passen.

Wenn junge Leute heute Unterhaltung suchen, steuern sie das Glockenbachviertel an. Dass Schwabing früher deutschlandweit als Synonym für das wilde Leben galt, ist angesichts bereits um 22 Uhr menschenleerer Straßen nur noch schwer vorstellbar. "

Ja, es ist ruhiger geworden", stellt auch Wolfgang Ettlich fest. Der Filmemacher, der ebenfalls in den Sechzigern zusammen mit seinem Kumpel Henny Heppel und anderen Freunden aus Berlin nach Schwabing übersiedelte, hat den Stadtteil in einem Dokumentarfilm verewigt. Dass die Leopoldstraße heute Billigmeile statt Prachtboulevard ist, die Mieten hoch und die Studenten, wie er sagt, "Upper-Class-Kinder" sind, stört ihn nicht. Woanders zu leben könne er sich schlicht nicht mehr vorstellen.

Gerade läuft in seinem Kleinkunst-Lokal "Heppel und Ettlich" eine Vorführung des Streifens, dem er den hübschen Titel "Schwabing, meine nie verblasste Liebe" verpasst hat. Für den Film hat er unter anderem junge WG-Bewohner interviewt und ist mit einer alten Dame durch die Straßen gezogen.

Die Aussage ist deutlich: Hier lohnt es sich zu sein. Der Saal ist voll, der Applaus der etwa 60 vor allem aus der Nachbarschaft stammenden Zuschauer ist lang und heftig. Hinterher schüttelt Ettlich viele Hände und fühlt sich sichtlich wohl. "Ich liebe das Kommunikative an Schwabing", sagt er. Und trotz allen Gejammers gebe es immer noch viel Kultur.

Der Zustand Schwabing hat nach wie vor seine Nischen, man muss sie nur suchen. Da ist beispielsweise der Türkenhof. Hinter dem gleichnamigen Lokal in der Türkenstraße finden sich Ateliers und Werkstätten, eine Mischung aus Kunst und Gewerbe. Hier hat unter anderem der Bildhauer Burkhard Backe sein eher an einen Schuppen erinnerndes Atelier, vor dessen Eingang er Skulpturen aufgestellt hat.

Dann gibt es noch Kreativ-Plätze wie die "Lach-und-Schieß-Gesellschaft" in der Ursulastraße, das "Lustspielhaus" und seit dem vergangenen Jahr auch das "Vereinsheim" in der Occamstraße, wo Kleinkunst gepflegt wird, oder das "Kleine Spiel" in der Neureutherstraße, eine seit Jahren innovative Puppenbühne, in der noch heute jeder Zuschauer genau so viel zahlt, wie er für richtig hält.

Auch am Nikolaiplatz in der Seidlvilla finden regelmäßig Lesungen, Ausstellungen von Künstlern und Künstlergruppen statt. Vor allem der Seerosenkreis sorgt mit Literatur, Kabarett, Musik, Diskussionsrunden und Werkstattgesprächen dafür, dass das Schwabing der Künstler und Literaten nicht im Dunst von Bierkneipen verschwindet, die die Münchner Freiheit und die Gegend um den Wedekindplatz prägen.

Auch für Alfred Darda wird Schwabing ein Zustand bleiben. Sei es im "Schellingsalon", wo er mit befreundeten Künstlern zusammenkommt, oder in seinem Atelier, in dem er gerne Besucher empfängt. In Schwabing gebe es das Klima für die höchste Kunst überhaupt, sagt er. "Das ist die Lebenskunst."

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