Schichtarbeit:Das etwas andere Nachtleben

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Ein Soziologe veranstaltet Exkursionen zu Rund-um-die-Uhr-Arbeitsstellen.

Birgit Lutz-Temsch

Für Martina Klement fängt der Tag mit der Nacht an. Regelmäßig. Denn erst, wenn sie im Stellwerk am Hauptbahnhof die richtigen Knöpfe drückt, fährt der Zug nach Ulm von Gleis 17 ab. Gleichzeitig beginnen die Beamten der Bundespolizei ihren Dienst, backen Bäcker Semmeln, behandeln Ärzte Kranke.

Jemand muss die Weichen stellen. Das gilt auch nachts. (Foto: Foto: dpa)

"Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da", heißt deshalb die Fahrt der Volkshochschule durchs dunkle München, die der Soziologe Armin Pongs seit zehn Jahren anbietet. 152 Mal hat er mit kleinen Gruppen mehr als 200 verschiedene Rund-um-die-Uhr-Arbeitsstätten besucht. Mitten in der Nacht.

Freitagabend, 21 Uhr: Vor der Volkshochschule in der Lindwurmstraße tröpfeln die Nachtschwärmer ein. Alte Bekannte, allesamt Volkshochschul-Exkursionsfans. "Weil man sich sonst nie anschaut, was direkt vor der Haustür ist", sagt Magdalena Augustin. Es wird gemunkelt, dass ein Bekannter schon 45 Mal mitgefahren ist. Heute fehlt er.

21.30 Uhr: Der Eingang zum schönsten Arbeitsplatz Münchens liegt auf der Hackerbrücke. Dort führt ein karges Treppenhaus in das Stellwerk des Hauptbahnhofs. An mehreren Schaltpulten mit blinkenden Lichtern werden dort die Wege der Züge gelenkt. Wie bestellt für die Gruppe: ein Oberleitungsschaden. Hektik an zwei Tischen. Martina Klement bleibt cool.

Ihre Gleise sind nicht betroffen. Seit 15 Jahren arbeitet sie in dem verglasten Raum mit dem wunderbaren Rundumblick. Hoch über den Gleisen. Viel Zeit, um Zügen hinterherzublicken. Martina Klement kommt aus Dillingen. Die Stadt vor ihrem Fenster kennt sie gar nicht: Sie pendelt jeden Tag hin und her.

Rund-um-die-Uhr-Menschen

Ihre Dienstzeiten sind für Tagarbeiter abenteuerlich: Die erste Schicht geht von 14 bis 22.30 Uhr, am Tag darauf arbeitet sie von 11 bis 20 Uhr, am dritten von 6 bis 14 Uhr, am vierten von 5.30 bis 11 und von 20 bis 5.30 Uhr. Dann ist Pause. Martina Klement ist ein Rund-um-die-Uhr-Mensch. So wie alle, die hier die Weichen stellen, jeden Tag im Jahr, ohne Feiertag, ohne Wochenende. Züge fahren immer.

Früher hieß dieser Beruf "Bundesbahnassistentin im mittleren nichttechnischen Dienst", heute ist sie Eisenbahnerin im Betriebsdienst.

Die VHS-Gruppe darf selbst ein paar Züge fahren lassen, ein paar Weichen stellen, fragen, wer an den Verspätungen der S-Bahn schuld ist, und schließlich noch aufs Dach des Stellwerks. Martina Klement freut sich, wenn sie ihren Arbeitsplatz zeigen und erklären kann. Dann wird die Nacht kürzer.

23 Uhr: Vor der zweiten Station holen sich die unerfahrenen Mitfahrer Getränke im Bahnhofskiosk, die erfahreneren haben Rucksäcke mit Nachtverpflegung dabei. Der Eingang ist unscheinbar, nichts blinkt, Aussicht gibt es keine.

Beim Bundesgrenzschutz, der jetzt Bundespolizei heißt, geht es weniger pittoresk zu. Auf dem Münchner Hauptbahnhof kreuzen sich täglich die Wege von 350.000 Reisenden. 750.000 Menschen fahren auf der S-Bahn-Stammstrecke. Alles potenzielle Kunden.

Auch hier kommt die Gruppe gerade richtig: Ein Schläger vom Ostbahnhof mit 1,85 Promille wird in eine der nüchternen Ausnüchterungszellen am Hauptbahnhof gesperrt. Die Arbeitszeiten sind ähnlich abenteuerlich wie im Stellwerk.

Wechselschichtmänner sind beliebt, heißt es. Sie können kochen, die Kinder in die Schule bringen oder einkaufen, weil sie tagsüber oft zuhause sind.

Die Gruppe fragt nach der Kleidung der Beamten - bald blau -, die Waffenscheinpflicht und den Unterschied zwischen Tag und Nacht am Bahnhof. Am Tag liegen die Hauptzeiten der Bundespolizei im Berufsverkehr.

Verschiedene Humorebenen

In der Nacht wird es interessant, wenn sich die letzten Diskothekenbesucher mit den ersten Berufstätigen treffen, und zwei verschiedene Humorebenen aufeinandertreffen. Dann geht es in den Videoüberwachungsraum. Danach überlegen sich die Teilnehmer jeden Schritt im Bahnhof genau.

1 Uhr: Der Tourbus schaukelt weiter. Die ersten dämmern weg. Wer glaubt, die Analogpost habe im digitalen Zeitalter weniger zu tun, muss einmal ins Frachtzentrum nach Aschheim fahren. 110.000 Pakete werden dort jede Nacht ausgeladen, nochmal 100.000 am Tag.

Menschen schicken sich Bücher, Telefone, Lautsprecherboxen, Lampenschirme, Akkordeons. Alles in gelbbrauner Pappe. Durch das Frachtzentrum schlängeln sich Förderbandraupen, die auf ihren Rippen die Pakete durch die Nacht tragen. Aus Itasca, Minnesota, in die Klenzestraße. Aus Warrnambool, Australien, in die Theresienstraße.

Jedes Paket muss angefasst werden. Die Lastwagen fahrer stellen dort ihre Container an Toren ab. Ein Arbeiter - die meisten sind Frauen - lädt die Fracht auf ein Förderband. Stück für Stück, bis zu 30 Kilo schwer, 1000 Mal pro Laster.

In etwas mehr als einer Stunde. Dann kommt der nächste. Stundenlöhne von 6,80 Euro kursieren für Leiharbeiter. Exkursionsteilnehmerin Michaela Ausfelder sagt: "An Nachtarbeit könnte ich mich nie gewöhnen. Deshalb schaue ich mir das hier mal an - damit ich wieder weiß, welch ein Privileg eine Arbeit mit menschlichen Rahmenbedingungen ist." Hochachtung habe sie vor diesen Menschen.

3 Uhr: Frankfurter Ring, Konditorei Eisenrieder. Ohne Zweifel die gemütlichste Station der Tour, die traditionell in einer Backstube endet. Mit wunderbar frisch gebackenen Croissants in der Hand endet die Nacht. Oder der Tag.

Nächste Touren: Freitag, 9. Dezember, 17.März, jeweils 21 Uhr, Telefon 0171/2814082.

© SZ vom 8.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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