Richard Oekter über seine Entführung:"Ich dachte, jetzt kommt der finale Schuss"

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Die Qualen des Opfers: 30 Jahre lang schwieg Richard Oetker. Seit einiger Zeit berichtet in seltenen Auftritten von seiner Entführung 1976 - nun war er in München.

Hans Holzhaider

Die Münchener Juristische Gesellschaft ist ein höchst illustrer Verein; ihr Vorsitzender ist der ehemalige Generalstaatsanwalt Hermann Froschauer, im Vorstand sitzen die Präsidenten und Ex-Präsidenten nahezu aller in München ansässigen Obergerichte.

Ungefähr zehn mal im Jahr lädt die Gesellschaft zu einem juristischen Fachvortrag ein, dessen Zuhörerzahl sich meist in überschaubaren Grenzen hält. Für den Dienstagabend freilich hatten sich so viele Zuhörer angemeldet, dass das übliche Vereinslokal, der Schwurgerichtssaal im alten Justizpalast, bei weitem nicht ausgereicht hätte.

Man musste auswandern, in den fast 400 Personen fassenden Sophiensaal in der Oberfinanzdirektion. Er war bis auf den letzten Platz gefüllt, als der Referent des Abends ans Mikrophon trat: Ein großer, stattlicher Mann mit einem freundlichen, offenen Lächeln, dem kaum anzumerken ist, dass er noch immer an den Folgen einer vor 30 Jahren erlittenen schweren Verletzung leidet: Richard Oetker.

Ein brutaler Stromschlag

Am frühen Abend des 14. Dezember 1976 wurde der damals 25-jährige Student der Agrarwissenschaften in Weihenstephan entführt und 40 Stunden später wieder freigelassen, nachdem seine Familie ein Lösegeld von 21 Millionen Mark bezahlt hatte.

Der Entführer sperrte ihn in eine Holzkiste und fesselte ihn mit Handschellen, die an einen Stromkreis angeschlossen waren. Durch einen Konstruktionsfehler erhielt Richard Oetker einen so schweren elektrischen Schlag, dass ihm zwei Brustwirbel und beide Hüften brachen. Der Entführer, der zur Tatzeit 33-jährige Dieter Zlof, wurde 1980 zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.

30 Jahre lang hat sich Richard Oetker, abgesehen von seiner Zeugenaussage vor Gericht, nicht öffentlich über seine Entführung geäußert. Im Januar 2006 trat er in Kiel zum ersten Mal vor ein Publikum. Nicht nur seine Entführung jährt sich zum 30. Mal, sondern auch die Gründung des Weißen Rings, der die Interessen von Verbrechensopfern vertritt.

Richard Oetker wirbt um Sympathien und um Spenden für den Weißen Ring, weil er weiß, wie einsam und ausgeliefert sich die Opfer von Straftaten in einem Verfahren fühlen, das sich in erster Linie um den Täter und um den staatlichen Verfolgungsanspruch dreht. "Ich habe erlebt, was es heißt, ein Opfer zu werden", sagt Oetker. ,"Ich hatte eine Familie und ein großes Netzwerk um mich. Viele haben das nicht. Deshalb stehe ich hier."

"Ich lag darin wie ein Embryo."

Oetker geht in medias res, wie jeder gute Erzähler. Wie er aus der Vorlesung kam, über den Parkplatz zu seinem Auto ging, wie da ein schräg geparkter Kastenwagen stand, wie er misstrauisch wurde und umkehren wollte, und wie dann der Mann da stand, maskiert, mit einem Mongolenbart, und einer Pistole mit Schalldämpfer, der ihn zwang, sich in eine Kiste zu legen. "Ich war 1,96 Meter groß, die Kiste nur 1,46 Meter. Ich lag darin wie ein Embryo."

Die Stimme des Entführers: "Ich solle keine Angst haben, es sei eine Entführung, er sei selbst zu der Tat gezwungen worden." Es gab ein Babyphon in der Kiste, so konnte man sich verständigen. Was denkt man in so einer Situation?

"Ich hatte Gottseidank meinen Optimismus nicht verloren. Ich wollte mir so viel wie möglich einprägen, um es später der Polizei zu erzählen. Es war wichtig, meinen Bewacher in Gespräche zu verwickeln. Also sagte ich zu ihm, wir sollten uns duzen. Ich dachte mir einen Namen für ihn aus. Checker. Das war der Spitzname eines Schulfreundes. Ich erklärte ihm das: Ich sehe ihn in dieser Situation als meinen besten Freund an."

"Ich dachte, ich sollte getötet werden."

In der Nacht fuhr Checker weg. Als er wiederkam, geschah das Unglück: Ein lautes Geräusch am Auto aktivierte den Stromkreis. "Ich hatte enorme Schmerzen. Ich habe wohl laut geschrien. Ich dachte, ich sollte getötet werden." Aber auch in dieser verzweifelten Lage verfolgte Oetker konsequent seinen Plan, sich möglichst viele Details einzuprägen.

"Er gab mir ein Stück Schaumstoff in die Kiste, darauf war handschriftlich ein Preis notiert. Ich hörte ein Martinshorn und versuchte die Richtung zu bestimmen, aus der es kam. Ich hörte einen Hund bellen. Es ist sehr schwierig, sich die Stimme eines Hundes zu merken. Ich hörte das Geräusch des Auto, mit dem mein Bewacher wegfuhr. Ich war sicher, es war ein Sechs-Zylinder-Mercedes." Die Polizei wollte das später nicht glauben, aber es war wirklich einer.

Der erste Prozesstag

Dann, nach langen, bangen Stunden, die Freilassung: "Er fuhr mich in einen Wald, dort wurde ich umgeladen in einen Opel Commodore, der mit laufendem Motor bereitstand. Ich bekam eine Kapuze über den Kopf. Er sagte, ich solle bis hundert zählen, ehe ich die Kapuze abnehme.

Als ich bei 40 war, ging die hintere Wagentür auf. Ich dachte, jetzt kommt der finale Schuss. Aber es geschah nichts. Die Tür schloss ich wieder. 20 Minuten später kam die Polizei. Ich war sehr glücklich."

Drei Jahre vergingen, bis Dieter Zlof gefasst wurde, ein weiteres Jahr ging ins Land, bis der Prozess begann. "Diese lange Zeit der Ungewissheit", sagt Richard Oetker, "war schrecklich für mich. Zu fantasieren, wer es alles gewesen sein könnte." Dann: Der erste Prozesstag.

"Der Mann fixierte mich."

"Ich kam in den Gerichtssaal. Da war eine Schar von Fotografen. Klick-klick-klick. Und plötzlich bewegte sich die ganze Schar in eine andere Richtung. Der Angeklagte wurde hereingeführt. Ich persönlich war in diesem Moment sehr allein."

Die Verhandlung begann. "Dieser Mann fixierte mich. Er schwenkte den Kopf von links nach rechts, um mir zu bedeuten, dass er unschuldig sei." Zlof leugnete. Er gebärdete sich als unschuldiges Opfer. "Dann kam meine Vernehmung. Ich kam mir ein wenig vor wie ein kleiner Büßer, der in die Zange genommen werden soll."

Ob er die Stimme erkenne? Das war schwer - der Entführer hatte Hochdeutsch gesprochen, Zlof sprach im Gerichtssaal breitestes Bayerisch - aus gutem Grund. "Dann sollten wir die Hände aneinanderlegen. Der Entführer hatte deutlich kleinere Hände als ich. Und ich merkte: Er wollte schummeln. Das war der Augenblick, in dem ich mir sicher war, er ist es." Ob er Mittäter hatte, blieb Spekulation.

Zlof tappte doch noch in die Falle.

Und dann das Urteil. 15 Jahre. "Ich werde immer gefragt, ob ich das für gerecht halte. Ich kann nur sagen: Ich habe in meinem Leben noch nie Rache empfunden, und auch noch nie jemanden gehasst. Für mich ist das Allerwichtigste, dass es abschreckend wirkt."

Dass einige Medien von einem Fehlurteil sprachen, habe ihm zu schaffen gemacht, sagt Oetker. Dass ihm vorgehalten wurde, er habe dazu beigetragen, einen Unschuldigen hinter Gitter zu bringen. Das ist alles längst Vergangenheit. Zlof tappte zuletzt doch noch in die Falle. 20 Jahre später, als die Strafe verbüßt war, und er versuchte, das, was vom Lösegeld übrig geblieben war, in London in sauberes Geld umzutauschen. "Das", sagt Oetker, "war eine gewisse Genugtuung für mich."

Richard Oetker trägt noch immer an den Folgen des Verbrechens. Er kann ohne Krücken gehen, aber nicht sehr weit. Über eine Stunde hinter einem Rednerpult zu stehen, bereitet ihm Mühe. Er lässt den Blick schweifen über die vielen Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte im Saal. Sie haben ihm atemlos zugehört. Sie applaudieren sehr lange.

© SZ vom 25.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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