Rehabilitationszentren für Körperbehinderte:Unser Haus

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Bis Ende 2015 soll am Scheidplatz ein Haus entstehen - mit Platz für 100 Menschen mit Behinderung, die im Ruhestand sind.

Sebastian Lorenz

Wenn Claudia Masling vom Vorhaben "Forum am Luitpold" erzählt, verrät das Leuchten in ihren Augen wie sehr ihr das Projekt am Herzen liegt. "Derzeit erreicht in Deutschland mit der Nachkriegsgeneration die erste größere Bevölkerungsgruppe mit Behinderungen das Rentenalter." Grund für diese Entwicklung seien zum einen die Euthanasie-Verbrechen des Dritten Reichs, zum anderen der medizinische Fortschritt und die damit einhergehenden verbesserten Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen für Menschen mit Behinderung. "Nun stellt sich die Frage, wie für diese Gruppe der Übergang in den Ruhestand gestaltet werden kann", sagt Claudia Masling, die mit ihren langen, blonden Haaren, ein bisschen wie Agneta von ABBA aussieht. "Auch für ältere behinderte Menschen müssen die Prinzipien von Normalisierung und Integration erhalten bleiben, so dass sie ein Leben mit einem Maximum an Selbständigkeit und Selbstverantwortung führen können."

Bis Ende 2015 soll deshalb am Scheidplatz in München ein Mietshaus entstehen, mit Platz für etwa 100 Menschen mit Behinderung, die im Ruhestand sind. Für Menschen wie Irmgard Zahn und Alexander Bassarini.

Wer Alexander Bassarini besuchen will muss sich in den dritten Stock des Gebäudekomplexes der Pfennigparade begeben. Die Tür öffnet einem nicht Alexander selbst, sondern sein Vater. Die blauen Schuhüberzieher, die er einem - dem frischgewischten PVC-Boden zuliebe - entgegenhält, erinnern an Miniaturmüllsäcke. Nachdem sichergestellt ist, dass man keinen Dreck mit hinein bringt, erhält man Einlass in Herrn Bassarinis "Refugium".

Er ist 37 und seit frühester Kindheit an den Rollstuhl gefesselt. Diagnose: "Spinale Muskelatrophie" - Muskelschwund, der durch einen fortschreitenden Untergang von motorischen Nervenzellen im Rückenmark verursacht wird. Geboren wurde er 1973 in Sofia, Bulgarien. Mit Fünfzehn zog er nach München, seit 1992 lebt er zusammen mit seiner Familie in einer 4-Zimmer-Wohnung der Pfennigparade.

Seine Familie, das sind Ginka, seine 73-jährige Mutter und Simeon sein 67 Jahre alter Vater, die ihm nach wie vor bei fast allen körperlichen Tätigkeiten zur Hand gehen. Zum nachmittäglichen Kaffeekränzchen serviert Ginka Schokokuchen und Mandelplätzchen aus dem Supermarkt, dazu Mineralwasser und Granulatkaffee.

Von Zeit zu Zeit erhebt sie sich von ihrem Stuhl, hält ihrem Sohn das Glas an den Mund, füttert ihn mit einem der Plätzchen. Essen, trinken, baden, sich anziehen - alltägliche Dinge, zu denen Alexander ohne fremde Hilfe nicht in der Lage ist. Das heißt allerdings nicht, dass Alexander unbedingt auf seine Eltern angewiesen ist. "Vieles läuft hier mit Tricks", grinst er und meint damit die Beleuchtung und den elektrischen Türöffner - beides via Sprachsteuerung bedienbar. Für alle anderen Tätigkeiten könnte er sich auch an den ambulanten Pflegedienst der Pfennigparade wenden.

Alexander ist ein Musterbeispiel dafür, dass körperliche Defizite geistige Agilität nicht ausschließen. Stolz erzählt er von seinen schulischen Erfolgen: Auf das an der stiftungseigenen FOS gemachte Abitur folgte ein Diplom als Feinwerk - und Mikrotechnikingenieur. Der Einstieg in die Berufswelt ist ihm bisher nicht gelungen. Stattdessen engagiert er sich innerhalb der Pfennigparade, vertritt als Mitglied des Bewohnergremiums die Interessen der Paradenbewohner gegenüber der Verwaltung und den Pflegediensten.

Was er vom Projekt "Forum am Luitpold" hält? Er findet es gut, zieht sogar in Erwägung eines Tages selbst in eine der Wohnungen zu ziehen. Eines Tages, das heißt dann, wenn seine Eltern nicht mehr da sind und die 4-Zimmer-Wohnung zu groß für ihn alleine sein wird.

An Irmgards Wohnungstür hängt ein Schild mit der Aufschrift "VORSICHT! BISSIGER BEWOHNER". Gleich neben der Tür ein Rollstuhl, mit einer Art Fahrradschloss vor Diebstahl gesichert. Das Innere der Wohnung, ähnelt mehr einem überdimensionalen Schaukasten denn einem Zuhause: Ein ganzes Bataillon blauer Flaschen in allen Größen und Formen, gerahmte Bilder, Schlüsselanhänger, Magnete, die wie Gemüse oder Würstchen aussehen, kleine Katzenfiguren aus Porzellan, Parfumflakons. "Noch nicht ganz 'Messie', aber ich hab schon eine kleine Sammelleidenschaft.", sagt Irmgard, die von den meisten hier Irmi genannt wird, über sich selbst. Sie hat einen blassrosa Pulli an, die Füße stecken in gefütterten Pantoffeln. Ihr Haar trägt sie kurzgeschnitten und grau, mit zahlreichen purpurroten Strähnchen durchsetzt.

Als Kind erkrankte sie an Polio. Die Infektionskrankheit griff die muskelsteuernden Nervenzellen ihres Rückenmarks an und hinterließ bleibende Lähmungserscheinungen. Heute, mit 54, wohnt sie seit nunmehr 31 Jahren hier in der Pfennigparade. Eine Zeit lang hat sie als Programmiererin gearbeitet, seit 1990 ist sie Rentnerin. Im selben Jahr ist auch ihr bester Freund von ihr gegangen: Yorkshire-Terrier Xaver von der Lehnbach, von Irmi immer nur "Knubbel" genannt.

Das Sammeln von Krimskrams aller Art ist nicht ihr einziges Hobby. Sie liebt Flohmärkte. Zwei Mal pro Woche trifft sie sich mit Freunden zum gemeinsamen Spieleabend. Außerdem ist sie Mitglied der integrativen Theatertruppe "abArt". Zusammen mit neun anderen behinderten und nichtbehinderten Frauen und Männern stellt sie durch Tanz, Schauspiel und Performanceart gesellschaftliche Werte und Normen kritisch in Frage.

Überhaupt spiele sich ihr Leben eher außerhalb ihrer vier Wände ab sagt sie und lächelt dabei. In die Warteliste für "Forum am Luitpold"-Wohnungen hat sie sich bereits eingetragen. Ob sie jedoch wirklich eines Tages in das Rentnerhaus ziehen wird? "Das hängt davon ab, ob meine Freunde auch dorthin ziehen", antwortet sie und wirft ein Blick auf das Foto von Xaver von der Lehnbach, das gleich neben der hölzernen Essecke an der Wand hängt.

Bis 2015 bleibt ihr noch Zeit über einen Umzug nachzudenken, denn dann soll das neue Mietshaus der Pfennigparade erstmals seine Türen öffnen.

Der Autor Sebastian Lorenz nimmt am Ausbildungsgang Modejournalismus/Medienkommunikation der Akademie Mode und Design (AMD) teil. Die Reportage ist im Rahmen des Kurses "Journalistisches Schreiben" entstanden. Mehr Informationen über die Pfennigparade gibt es hier.

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