Pflege-Skandal:22 Fälle von Selbststrangulation

Lesezeit: 2 min

Eine LMU-Professorin deckt einen Skandal bei der Pflege auf - mindestens 22 alte Menschen sterben qualvoll.

Sven Loerzer

Im Fachjargon nennt sich der Einsatz von Gurtsystemen und Bettgittern "mechanische Fixierung". Meist werden fürsorgliche Gründe genannt, wenn alte, oft verwirrte Menschen ans Bett gefesselt oder in einem Stuhl angegurtet werden: Sie sollen nicht aus dem Bett fallen oder vom Stuhl rutschen. Im Jahr 2002 hat eine Studie ergeben, dass in München jeder zweite Pflegeheimbewohner fixiert wird.

(Foto: Foto: dpa)

Mit ihrer Studie zu "Todesfällen bei mechanischer Fixierung in Pflegesituationen" will Berzlanovich, die seit März 2005 als Professorin am Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität arbeitet, dazu beitragen, künftig Fehler zu vermeiden.

Ihr Spezialgebiet ist die "Forensische Gerontologie", und deshalb hat sie sich nach ihrem Wechsel von Wien nach München der hier häufigeren Todesfälle im Zusammenhang mit Fixierungen angenommen. Während der 16 Jahre in Wien stieß sie auf einen einzigen Fall.

Aus den vergangenen zehn Jahren hat die Professorin inzwischen 33 Todesfälle rückblickend untersucht, bei denen der Leichenschauarzt eine "ungeklärte" oder "gewaltsame" Todesursache attestiert hatte. "Die Analyse dieser Fälle erbrachte, dass 28 Mal die Fixierung selbst für den Todeseintritt verantwortlich war", heißt es in einer Zusammenfassung für den Landespflegeausschuss, die der SZ vorliegt.

Nur in fünf Fällen handelte es sich um andere Todesursachen. Unter den Opfern, die durch Fixierung zu Tode kamen, waren 20 Frauen und acht Männer. Das Durchschnittsalter gibt Andrea Berzlanovich mit 75,4 Jahren an, knapp ein Drittel der Betroffenen sei mehr als 90 Jahre alt gewesen.

"Es handelte sich ausschließlich um Pflegefälle", so die Gerichtsmedizinerin. 27 der 28 Opfer waren verwirrt und wurden wegen "motorischer Unruhe und Sturzgefahr" fixiert. Ein 43-jähriger Multiple-Sklerose-Kranker sei beim Training am Freistehbarren infolge eines Defekts des elektrischen Gurtaufrollers gestorben.

Insgesamt 22 der 28 Todesfälle hätten sich in Pflege- und Altenheimen ereignet, vier in Krankenhäusern und zwei im häuslichen Bereich. 17 der Opfer starben durch Strangulation oder Druck auf den Hals, bei neun Opfern wurde der Brustkorb zusammengedrückt, zwei gerieten mit dem Kopf in eine tödliche Tieflage.

Erschreckend ist das Fazit der Gerichtsmedizinerin: "Von den bisher 23 überprüften Fällen lagen insgesamt 16 Mal Fehlanwendungen des Gurtsystems und sechs Mal des Bettgitters vor", erklärt Andrea Berzlanovich, "nur einmal war das Gurtsystem sachgemäß angebracht worden". Zumeist rutschen die Opfer aus einem falsch angelegten oder zu großen Bauchgurt, oder sie geraten mit dem Kopf ins Bettgitter und strangulieren sich. Wenn fixiert werde, dann komme es auf die richtige Handhabung an, ebenso auf regelmäßige Beobachtung.

Deshalb hat jetzt der Landespflegeausschuss einen Leitfaden zum "verantwortungsvollen Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege" zusammengestellt. Er zielt auf einen sehr restriktiven Gebrauch von Fixierungsmitteln, zumal der Einsatz Infektionen, Wundliegen, Verlust von Muskelkraft und Gleichgewichtsprobleme provoziere.

"Zwei von drei freiheitsentziehenden Maßnahmen hängen mit bloßen Betreuungsdefiziten zusammen", bekräftigt Helma Kriegisch. Sie ist im Sozialreferat, das schon seit Jahren Alternativen zur Fixierung propagiert, zuständig für strukturelle Hilfen bei Pflegebedürftigkeit.

Eine Studie zur von der Stadt mit 1,5 Millionen Euro jährlich geförderten heiminternen Tagesbetreuung habe ergeben, dass während der Betreuung dementer Heimbewohner - überwiegend in Kleingruppen, aber auch einzeln - bei zwei Drittel auf den Einsatz von Gittern und Gurten verzichtet werden könnte. Obendrein ließe sich die Psychopharmaka-Gabe in der Hälfte der Fälle reduzieren oder sogar ganz vermeiden.

© SV vom 24.2.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: